Montag, 4. Mai 2015

Hyperaktive Metallionen im menschlichen Körper


Werden Krankheiten wie die Alzheimerdemenz oder Brustkrebs durch Aluminium begünstigt? An einer Konferenz in Lille haben Forscher neue Erkenntnisse zu dieser Frage präsentiert.


Aluminium ist nach Eisen das weltweit meistverwendete Metall. Die Produktion liefert laufend Rekorde und hielt zuletzt bei einer Jahresförderung von 52 Millionen Tonnen. Autobleche, Verpackungen, elektrische Leitungen, Dächer oder Fassaden-Elemente: Der dekorativ glänzende Werkstoff ist allgegenwärtig. Während des nächsten Jahrzehnts soll so viel Aluminium erzeugt werden wie in den 150 Jahren zuvor – also seit es Aluminium in reiner Form überhaupt gibt. Davor lagerte es – ebenso allgegenwärtig, aber unsichtbar – im Boden. Fest verbunden mit Sauerstoff oder Silikaten ist Aluminium als Bestandteil von Schiefer, Granit oder Lehm das häufigste Metall der Erdkruste.


Kritische Aluminiumforschung

Wie könnte ein so häufiges Element toxisch sein? Der Beantwortung dieser Frage widmete sich das «11. Keele Meeting on Aluminium», eine Art Weltkongress der kritischen Aluminiumforschung, der Anfang März im nordfranzösischen Lille abgehalten wurde. «Das Leben hat sich entwickelt, während Aluminium in den Silikaten eingeschlossen war», sagte Christopher Exley, Professor für bioanorganische Chemie an der britischen Keele University und Organisator der Veranstaltung. Das Problem sei erst entstanden, als wir Aluminium aus seinen chemisch neutralen Erzen befreit und als hochaktive Metallionen in den biochemischen Kreislauf des Lebens gebracht hätten.

Christopher Exley: "Wir befinden uns in einer aktiven Phase der Evolution"
Alu-Werkstoffe sind dabei laut Exley das kleinste Problem, weil die positiv geladenen Metallionen sofort mit dem Sauerstoff aus der Luft reagieren. Auf diese Weise bildet sich eine stabile Oxidschicht, welche die darunterliegenden Metallionen isoliert und damit vor weiteren Reaktionen abhält. Im neutralen pH-Bereich ist Aluminium nahezu unlöslich und damit auch nicht toxisch. Es gibt jedoch viele Aluminiumverbindungen, die deutlich weniger stabil sind und in sensiblen Lebensbereichen eingesetzt werden, etwa in Kosmetikprodukten, Lebensmittelfarbstoffen oder Medikamenten. Hier können die Metallionen relativ leicht freigesetzt werden – etwa im leicht sauren Milieu der Haut oder bei der Passage durch den Magen, wo pH-Werte von 1 bis 2 herrschen.

Ob Aluminium gesundheitliche Probleme auslösen kann oder nicht, hängt also davon ab, in welchem Umfang sich die Metallionen aus einer Verbindung lösen. Diese Ionen gehen dann nahezu wahllos Verbindungen im Organismus ein. Bisher sind über 200 Mechanismen bekannt, wie Aluminium biologische Abläufe beeinflusst und in den Stoffwechsel eingreift. «Manche denken, dass die Evolution des Lebens abgeschlossen ist», sagte Exley in Lille. Doch mit dem Eintritt von Aluminium in die biologischen Systeme befänden wir uns in einer aktiven Phase der Evolution.
Beunruhigende Befunde

Wie sich das auswirken könnte, zeigen Studien aus den letzten Jahren. Viele Krankheiten, darunter Brustkrebs, Alzheimerdemenz, Parkinsonkrankheit, Allergien und Autoimmunerkrankungen sind mit den «hyperaktiven» Metallionen in Verbindung gebracht worden. Ein Forscherteam der Universität Sydney publizierte 2014 die Resultate eines mehrjährigen Experiments mit Ratten . Dabei zeigte sich, dass Tiere, die mit Aluminiumdosen im oberen Bereich der in westlichen Ländern üblichen Ernährung gefüttert wurden, gehäuft zu alzheimerähnlichen Gedächtnisstörungen neigten.

Eine 2013 publizierte Arbeit der katholischen Universität Rom untersuchte Ferritine, also eisenspeichernde Eiweisse, die über das Blut im ganzen Organismus zirkulieren. Die Forscher analysierten die Fracht der Ferritine bei Alzheimerpatienten und fanden, dass hier – im Gegensatz zu einer Kontrollgruppe aus gesunden Blutspendern – nicht nur Eisen, sondern mehrheitlich Aluminium geladen war . Weil Ferritine problemlos die Blut-Hirn-Schranke passieren, wäre damit auch ein möglicher Zugang ins Gehirn gefunden.

Arbeiten der Universitäten Reading in England und Genf wiesen zudem nach, dass gesunde Brustzellen bereits unter dem Einfluss niedrigster Aluminiumkonzentrationen Doppelstrangbrüche der DNA und andere Anzeichen von physiologischem Stress zeigen, die das theoretische Krebsrisiko erhöhen.

Die Berichterstattung zu Aluminium stieg in Folge dieser Entdeckungen in den letzten beiden Jahren deutlich an. Vor allem das mögliche Risiko, das von aluminiumhaltigen Deos ausgeht, war Thema zahlreicher Artikel und TV-Beiträge. Das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) präsentierte Ende 2014 die Resultate einer repräsentativen Umfrage. Demnach sehen mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung von Aluminium in Verbraucherprodukten ein hohes Risiko ausgehen.


Datenlage noch ungenügend

Noch erlaube die Datenlage aber keine definitive Beurteilung, sagte BfR-Präsident Andreas Hensel an einem «Aluminium-Forum» im November in Berlin. Unsicherheiten bestünden insbesondere bei der Einschätzung der Langzeitfolgen bei chronischer Aluminium-Aufnahme. Die wichtige Frage, wie viel Aluminium über Deodorants in die Haut eindringt, beruhe beispielsweise auf einer einzigen Studie mit zwei Probanden. «Wir haben deshalb die Industrie aufgefordert, bessere Untersuchungen vorzulegen», so Hensel.

Besonders gross ist das öffentliche Interesse an der Aluminium-Thematik in Frankreich. Hier kam es im Mai 2014 zu einem Hearing im Parlament in Paris, zu dem Aluminium-Experten eingeladen waren. Schon davor hatte eine von der französischen Nationalversammlung eingesetzte Kommission von Impfexperten empfohlen, besonders bei den Impfstoffen für Babys Alternativen ohne den Wirkverstärker Aluminium anzubieten. Denn bei Kindern mit genetischer Vorbelastung könnten sich die Aluminiumionen im Organismus anreichern, warnte der Jury-Sprecher. Der Vorschlag liegt derzeit bei der europäischen Arzneimittelagentur in London.


Aluminium - ein Problem für Pflanzen

In Lille haben sich mehr als hundert Wissenschafter aus den verschiedensten Fachgebieten versammelt. In den fünf «Sessions» wurde intensiv über neue Studien und deren Potenzial zur Aufklärung der Einflüsse von Aluminium diskutiert. 

Am ersten Tag ging es um die Frage, wie sich Pflanzen evolutionär an Aluminium im Boden angepasst haben. Speziell in tropischen Gebieten, aber auch im Norden Europas überwiegen Böden mit pH-Werten im sauren Bereich. Falsche oder übermässige Düngung mit Ammonium leiten auch bei neutralen Böden eine schrittweise Versauerung ein, wodurch toxische Metalle freigesetzt werden. Bei einem pH-Wert unter 3 kommt das Wachstum der Pflanzen generell zum Stillstand. Nur wenige Gräser und Sträucher haben die Fähigkeit, Aluminium zu akkumulieren. Sie binden das Element mit neutralisierenden Inhaltsstoffen wie Oxalaten oder Phenolen. Von den Pflanzen, die für die menschliche Ernährung eine Rolle spielen, sind das vor allem Tee und Buchweizen. Die meisten auf sauren Böden heimischen Pflanzen verwenden hingegen viel Energie, um Aluminium gar nicht erst aufzunehmen. Dazu verändern sie etwa den pH-Wert in der Wurzelregion oder setzen aluminiumbindende Chemikalien frei. Für die Landwirtschaft sind toxische Aluminiumionen ein grosses Problem. Denn abgesehen von Reis haben die meisten Getreidesorten keine erworbenen Resistenzmechanismen und gedeihen auf sauren Böden schlecht. Der Amerikaner Leon Kochian von der Cornell University im Gliedstaat New York hat mit seinem Team Gene identifiziert, welche die Pflanzen vor den toxischen Auswirkungen des Aluminiums schützen und diese in das Erbgut verschiedener Mais- und Weizensorten transferiert. Auf Versuchsböden in Westafrika mit niedrigem pH-Wert konnten die Forscher zeigen, dass es damit möglich ist, die Ernteerträge in tropischen Gebieten zu steigern. Auch Saatgutkonzerne wie Monsanto experimentieren mit gentechnisch veränderten Sorten und bieten unter anderem Aluminium-resistentes Soja an.


Neue Studien zu Brustkrebs

Einen ersten Einblick in eine interessante, aber noch nicht abgeschlossene Arbeit gab die Biologin Caroline Linhart von der Medizinischen Universität Innsbruck. In ihrer Arbeit will sie das Gewebe von 200 Patientinnen mit Brustkrebs auf Aluminium untersuchen und mit dem Gewebe von gesunden Frauen vergleichen. Noch gibt es keine Messergebnisse, dafür aber eine detaillierte Übersicht zu den kosmetischen Gewohnheiten der Probandinnen. Und hier zeigte sich, dass Frauen, die häufig Alu-Deos verwendet haben, signifikant früher an Brustkrebs erkrankten.

Inspiriert wurde Linharts Arbeit von Resultaten der britischen Krebsforscherin Philippa Darbre, die seit zwei Jahrzehnten die möglichen Auswirkungen kosmetischer Inhaltsstoffe auf die Entstehung von Tumoren im Brustgewebe untersucht. 2011 wies sie nach, dass in der Brustflüssigkeit von Brustkrebspatientinnen – im Vergleich zu gesunden Frauen – deutlich erhöhte Konzentrationen von Aluminium enthalten sind. Darbre hatte auch gezeigt, dass in den letzten Jahrzehnten die Krebsdiagnosen im oberen äusseren Quadranten der Brust – also neben den Achseln – von 30 Prozent in den 1940er und 1950er Jahren auf nahezu den doppelten Wert angestiegen sind. Im selben Zeitraum haben die Frauen auch vermehrt aluminiumhaltige Deos verwendet.

«Wir haben schon viele Indizien für eine toxische Auswirkung von Aluminium auf die Zellen gefunden», sagt die britische Onkologin. Es sei höchste Zeit, dass es vermehrt Wissenschafter gebe, die diese wichtigen Fragen prüften.


Aluminium im Essen


Testserien haben gezeigt, dass der Aluminiumgehalt in frisch geerntetem Getreide und Früchten sich sehr stark von den Werten in den daraus hergestellten Speisen und Getränken unterscheiden kann. Die Rohstoffe sind dabei meist viel weniger stark belastet. Daraus folgt, dass Aluminium nur zu einem geringen Teil von den Pflanzen aus dem Boden aufgenommen wird. Wesentlicher scheinen die Einflüsse von Verarbeitung und Verpackung zu sein – wenn etwa Fruchtsäuren über längere Zeit in Kontakt mit Alufolien kommen.

Kroatische Forscher haben Getränke in Aludosen untersucht und dabei gefunden, dass deren Aluminiumbelastung von zwei Faktoren abhängig war: vom pH-Wert des Getränks und der Lagerdauer im Supermarkt. Ein anderes Beispiel einer externen Aluminiumquelle: Wenn Laugengebäck auf Alublechen in den Backofen geschoben wird, kann die verwendete Lauge Metallionen aus dem Blech lösen. Inzwischen ist auch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit aktiv geworden. Seit 2014 sind eine Reihe aluminiumhaltiger Lebensmittelzusätze verboten. Dazu zählen etwa Calciumaluminiumsilikat (E556) und Bentonit (E558), die unter anderem als Trennmittel – etwa bei Scheibenkäse – eingesetzt wurden. Backpulver auf Aluminiumbasis ist in Europa bereits seit einigen Jahren verboten.


Endstation Lymphknoten

Andere Forschergruppen haben in verschiedenen Tierversuchen den Einfluss von Aluminium auf die Entstehung der Alzheimerdemenz, auf entzündliche Darmerkrankungen oder Störungen des autistischen Spektrums untersucht. Eine erstmals in Lille präsentierte kanadische Arbeit zeigte, dass Mäuse, die Aluminium unter die Haut injiziert bekamen, ein verändertes soziales Verhalten zeigten. Wurden den Tieren im Experiment andere Mäuse ins Gehege gesetzt, liefen die Tiere aus der Alu-freien Kontrollgruppe sofort los, um diese ausgiebig zu beschnuppern. Nager, die mit Aluminium behandelt worden waren, ignorierten die Neuankömmlinge dagegen weitgehend.

Forscher der Universität Paris-Est wollten prüfen, wohin sich das Aluminium im Organismus verteilt, das Impfstoffen zugesetzt wird. Dafür wurde das Aluminiumsalz an fluoreszierende Diamant-Nanopartikel gekoppelt und damit sichtbar gemacht. Eine 2013 von der Gruppe publizierte Studie hatte gezeigt, dass sich Aluminiumpartikel in einem Jahr über den ganzen Organismus der Maus verteilten und in geringen Dosen auch das Gehirn erreichten.

Die neue Arbeit sollte diese Resultate an mehr Tieren überprüfen. Nun kam zur Überraschung der Forscher aber ein ganz anderes Resultat heraus: An den Lymphknoten war für das Aluminium nämlich Endstation – auch nach einem halben Jahr Beobachtungszeit hatten noch keine Alu-Partikel das Rückenmark, das Gehirn oder andere sensible Regionen erreicht und sich dort eingelagert. Wie es zu den konträren Studienresultaten kommen konnte, wurde in Lille intensiv diskutiert, aber ohne eine Antwort zu finden.

Eines der Hauptprobleme bei der Untersuchung der Wirkung von Aluminium ist der Faktor Zeit. Krankheiten wie Brustkrebs oder Alzheimer entwickeln sich über viele Jahre und werden von unzähligen Faktoren beeinflusst. Wie können solche biologischen Prozesse in Studiendesigns übertragen werden, die eine gültige Aussage über den Einfluss von Aluminium erlauben? Dieses Problem ist noch ungelöst. Bei der abschliessenden Pressekonferenz des «Lille Meetings» gab es zumindest darüber Einigkeit, dass dringend mehr Forschung finanziert werden sollte, um die drängendsten Fragen zu beantworten. Bis es soweit ist, sollten wir das Thema Aluminium nicht länger kleinreden, sagte Exley. Denn wo immer wir Aluminium im Körper fänden, habe es die Fähigkeit, Schaden anzurichten.

Dieser Artikel ist (in einer leicht gekürzten Version) am 29. April 2015 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen