Sonntag, 9. Oktober 2011

Ein ansteckendes Rätsel

Noch immer weiß niemand eine Antwort auf die alte Frage, warum wir gähnen.



Gähnen ist hoch infektiös. Keine andere Tätigkeit ist so ansteckend, regt derart zur unwillkürlichen Nachahmung an. Es kann genügen, darüber zu lesen, und schon erfolgt das berühmte „tiefe Einatmen mit weit geöffneter Stimmritze, typischerweise mit geöffnetem Mund, oft begleitet von Bewegungen der Arme“, wie das Gähnen im Lexikon beschrieben wird.
Wer andere gähnen sieht, gähnt selbst. Blinde gähnen, wenn sie Gähngeräusche hören. Wenn sie jetzt gähnen müssen und ein Hund anwesend ist, dann gähnt er wahrscheinlich mit. Das ist empirisch belegt. Biologen der Universität London ließen 29 Hunde von Versuchspersonen angähnen. 21 Hunde gähnten zurück. Das ist eine Rückgähnquote von fast 75 Prozent. Allerdings war es dafür notwendig, richtig echt zu gähnen. Wenn die Vorgähner nur den Mund öffneten, ohne typisches Gähngeräusch, ließ sich kein einziger Hund inspirieren.

Die Wissenschaft vom Gähnen (Oszitation) heißt Chasmologie. Unzählige Chasmologen haben sich im Lauf der Jahrhunderte dem Geheimnis der Oszitation gewidmet. Doch trotz aller Anstrengungen ist es ihnen bisher nicht gelungen, den Kern ihrer Forschung aufzuklären: Warum gähnen wir eigentlich. Was hat das für einen Zweck?
Sollte Gähnen eine soziale Bedeutung haben? Der deutsche Ethnologe Karl von den Steinen stellte 1890 seine These vor, dass ansteckendes Gähnen die Müdigkeit in einer Gruppe verteilt, um den Schlafrhythmus zu synchronisieren. Doch genügt dafür nicht auch die Dämmerung?

Etwa zur selben Zeit spekulierten Mediziner, dass Abfallprodukte von Bakterien im Verdauungstrakt das Gähnen hervorrufe. Andere hielten es für Gymnastik der Atemorgane oder für eine Methode dem Gehirn mehr Sauerstoff zu verschaffen. Das wurde jedoch in einem Versuch widerlegt, in dem eine Gruppe reinen Sauerstoff zum Atmen erhielt. Diese Probanden gähnten jedoch genauso oft wie die anderen.
Eine neue These des US-Biologen Andrew Gallup besagt, dass Gähnen dazu dient, das Gehirn zu kühlen. Zur Untermauerung beobachtete Gallup Wellensittiche, die bei Wärme signifikant häufiger gähnten. Doch die Fachwelt reagierte skeptisch. Für Vögel mag die Kühlungstheorie ja noch einleuchten, Menschen haben jedoch Schweißdrüsen, die wesentlich effizienter Kühlung verschaffen.

Und was ist mit den Giraffen? - Während fast alle kaltblütigen und warmblütigen Tiere nach demselben Muster gähnen, egal ob Fische, Vögel oder Säugetiere, bleibt ausgerechnet die Giraffe abstinent. So lange man auch wartet, sie gähnt nicht.
Und somit bleibt die Chasmologie ein schwieriges, oft auch frustrierendes Fach. Zumal auch die Forschungsförderung auf niedrigem Niveau dümpelt. Denn während exzessives Gähnen lästig sein mag, so ist es doch nicht gefährlich. Und im Normalfall lässt es sich damit gut leben. Auch wenn nach wie vor niemand weiß, worum es dabei gähnt.

Dieser Artikel erschien im Rahmen der Coverstory "Wach im Schlaf" des Nachrichtenmagazins profil. (Foto: Jim Champion/Wikimedia Commons)

Leistungsschlaf


Neue Erkenntnisse der Schlafforschung zeigen, dass im Organismus zur Nachtzeit alles andere als Ruhe herrscht. Während das Gehirn die Eindrücke des Tages verarbeitet, rücken die Zellen der Immunabwehr zum nächtlichen Systemservice aus. Moderner Lifestyle gefährdet jedoch die Arbeit der Nacht.
„Stefan hatte scheinbar schon einige Jahre investiert, seinen Schlaf/Wach-Rhythmus systematisch zu ruinieren“, sagt der Schlafforscher Gerhard Klösch von der Univistätisklinik für Neurologie an der Meduni Wien. Stefans Vater hatte den 17jährigen Gymnasiasten im Juli im Schlaflabor des AKH-Wien vorgestellt, weil er absolut nicht mehr weiter wusste: Nachts konnte sein Sohn nicht schlafen, erzählte der Vater. „Jeden Morgen war es ein Drama, ihn aus dem Bett zu bringen. Die Lehrer sagten, dass er im Unterricht häufig wegdöst.“

Stefans Abschlusszeugnis 2011 war so katastrophal, dass die geplante Matura im nächsten Jahr in weite Ferne rückte. Einige Nächte im Schlaflabor zeigten die hormonellen Ursachen und Konsequenzen dieser Schlafstörung: „Stefan hatte nach Mitternacht, wo das Stresshormon Cortisol normalerweise den Tiefpunkt erreicht, gleichbleibend hohe Werte“, berichtet Klösch. Das Schlafhormon Melatonin wurde hingegen nur in geringen Mengen produziert. Auf ebenso tiefem Niveau bewegt sich die Aktivität des Immunsystems, das im Hormon Cortisol einen mächtigen Gegenspieler hat. Die für die Regulierung des Appetits zuständigen Hormone Ghrelin und Leptin schwankten stark und Wachstumshormone waren überhaupt kaum nachweisbar. „Das ist speziell bei Jugendlichen alarmierend, weil ja der Schlaf die Zeit des Wachsens ist“, sagt Klösch.
 Über die Sommermonate erarbeitete Klösch mit Stefan und dessen Eltern ein strenges Programm der Verhaltensanpassung. Computerspiele waren nur noch an drei Tagen pro Woche erlaubt, um ein Uhr nachts war spätestens Schluss. Das Handy durfte nicht ins Bett mitgenommen werden, Energy-Drinks wurden gestrichen. „Derartige Probleme bei Jugendlichen werden immer häufiger“, sagt Klösch, „Schlaf wird als Feind gesehen, der sie am spannenden Leben hindert.“

Auch in der Wissenschaft war der Schlaf lange ein Phänomen voller Rätsel: Warum hat die Evolution trotz aller damit verbundenen Risiken diese Phase eingeführt, wo die Lebewesen schutzlos den Feinden ausgeliefert sind. Was gewinnen wir mit dem Schlaf? Lange Zeit wurde die nächtliche Ruhephase als simpler Standby Modus betrachtet, in dem der Stoffwechsel auf Sparflamme läuft und das Bewusstsein abgeschaltet ist: eine Zeit der Erholung von den Mühen des Tages. Doch warum werden Faulpelze genauso müde wie emsige Hackler?
„Wenn es allein nach dem Körper ginge, müssten wir gar nicht schlafen“, sagt die Schlafforscherin Birgit Högl vom Institut für Neurologie der Medizinischen Universität Innsbruck. „Da würde nämlich eine simple Rastpause den selben Zweck erfüllen.“ Das belegen Experimente: Sogar nach fünf schlaflosen Tagen zeigen Versuchspersonen auf dem Laufband oder dem Fahrrad-Ergometer noch erstaunlich gute Leistungen. Im Kopf stehen sie allerdings schon am Rande des Wahnsinns. 
Schlafentzug wurde denn auch quer durch die Zeiten als Foltermaßnahme eingesetzt. Bereits im alten China galt dauerhafter Schlafentzug als besonders strenges und gefürchtetes Todesurteil. Und in dem von den USA betriebenen Gefangenenenlager Guantanamo auf Kuba wurde routinemäßig versucht, Häftlinge durch Schlafentzug vor Verhören zur Kooperation oder zu Geständnissen zu bewegen. „Schlaf ist vor allem ein Bedürfnis des Gehirns“, erklärt der Münchener Wissenschaftsautor Tobias Hürter, der mit seinem Buch „Du bist, was du schläfst“ nun eine aktuelle Bestandsaufnahme der internationalen Schlafforschung vorgelegt hat.
Und so ist die Suche nach den Geheimnissen des Schlafs zu einem guten Teil auch die Erforschung unseres wichtigsten Organes, des Gehirns. Das Denkorgan verbraucht ein Fünftel unseres Umsatzes an Energie und Sauerstoff zeigt sich, dass es im Schlaf mindestens genau so aktiv ist wie tagsüber während der Wachphase. Die Ressourcen, die dabei zur Verfügung stehen, sind unermesslich. „Ein einziges Gehirn“, sagt Hürter, „hat so viele neuronale Verbindungen, wie die gesamte Menschheit Haare auf dem Kopf.“

 Dass wir nun jede Nacht ausreichend Schlaf benötigen, liegt in erster Linie an der Funktionsfähigkeit dieses Wunderwerks. Schon tagsüber befasst sich das Gehirn nur am Rande mit äußeren Reizen. Diese sind zwar wichtig und werden natürlich auch wahr genommen und gespeichert. „Ein großer Teil seiner Aktivität – 60 bis 80 Prozent seines Energieverbrauches – tritt aber in Schaltkreisen auf, die nichts mit äußeren Ereignissen zu tun haben“, sagt der US-Neurologe Marcus Raichle. Im Gehirn herrscht ein niemals verstummendes Stimmengewirr. Alle Areale rufen gewissermaßen durcheinander, sodass es recht aufwändig , in dieses Chaos Ordnung zu bringen. Im Schlaf wird aufgeräumt.
Abseits des Bewusstseins arbeitet das Gehirn auf Hochtouren weiter, allerdings anders als im Wachzustand. Die Aktivitätsmuster ändern sich, und manchmal klinken sich Gedächtnis-Systeme aus, was unsere Erinnerungslücken im Traum erklärt. Dann wieder macht die allzeit vernünftige Großhirnrinde Pause, weshalb im Schlaf manchmal die bizarrsten Ideen auftauchen. Das Ruhenetzwerk entkoppelt sich von der Außenwahrnehmung, die inneren Stimmen bekommen mehr Gewicht.

Schlafforscher teilen die Nachtruhe in drei Stufen ein: das Dösen beim Einschlafen. Den Leichtschlaf, in dem wir etwa die Hälfte der Nacht – besonders den zweiten Teil hin zum Morgen verbringen und sehr viel träumen. Schließlich den Tiefschlaf, den der Organismus nach dem Einschlafen auf kürzestem Weg aufsucht und in dem das Gedächtnis neu justiert wird. In dieser ganz auf sich selbst konzentrierten Phase des Schlafes kommt es zu einer Art Zwiegespräch zwischen mehreren Hirnarealen.
Die Inhalte werden nicht wie bei einem Computer schlicht gespeichert, denn dadurch würde sich zu viel Datenmüll ansammeln. Stattdessen werden Informationen aufgerufen, bewertet, durchgespielt und dann neu zusammen gesetzt. Erlebnisse, die emotional zu schwach bewertet sind, verschwinden nach und nach aus dem Gedächtnis und machen Platz für Neues.
In diesem Bereich sehen Lernforscher einen wichtigen Ansatz für den idealen Unterricht: Informationen, die nicht mit Gefühlen – am besten positiven – besetzt sind, bleiben kaum im Gedächtnis haften, sondern verlieren sich rasch.

An die meisten Träume erinnert sich der Mensch nicht. Viele gleichen Gedankenblitzen und dauern nur ein bis zwei Sekunden. Länger und ereignisreicher sind die Träume in den REM-Phasen der zweiten Nachthälfte. Dabei bewegen sich die Augen („rapid eye movement“), als ob sie einem lebhaften Geschehen folgen würden. Und das tun sie auch, wie die aktuelle Forschung zeigt. Über Gehirnsignale werden auf der Netzhaut tatsächlich Traumbilder erzeugt. Zusammen genommen träumt der Mensch pro Nacht rund 60 bis 90 Minuten.
Jahrzehntelange Diskussionen befassten sich mit dem Zweck der REM-Phase. Prominente Schlafmediziner wie etwa Jan Born, Leiter der Abteilung für klinische Neuroendokrinologie der Universität Lübeck, bekennen offen, dass sie keine Erklärung dafür haben, wozu diese Phase des so genannten „paradoxen Schlafes“ gut sein soll.
Nun scheint es, als wäre eine halbwegs anerkannte, nachvollziehbare Erklärung gefunden. Sie geht auf den US-amerikanischen Neurowissenschafter Jonathan Winson zurück, einem gelernten Flugzeugingenieur, der das Fach wechselte, weil er die Entschlüsselung der Rätsel des Gehirns für die größere technische Aufgabe hielt. Winson ging in die Traumarchive und analysierte tausende von protokollierten Träumen aus allen Kulturkreisen. Dabei fiel ihm auf, dass sich die Träume in der REM-Phase dadurch auszeichnen, dass es dabei thematisch fast immer um Leben und Tod geht. Über alle Zeiten und Kulturen hinweg ist die Verfolgungsjagd das häufigste Traumszenario. Winson war überzeugt, dass in diesen Träumen das Gehirn seine Überlebenskünste schärft. Im REM-Schlaf werden also Gefahrensituationen geübt, die evolutionär bedeutsam waren. Winsons Idee ist unter Schlafforschern mittlerweile fast mehrheitsfähig.

Die individuelle, als erholsam empfundene Länge des Schlafes variiert beträchtlich. Im Schnitt schlafen Frauen etwa eine Stunde länger als Männer. Im höheren Alter nimmt der Ruhebedarf ab. Guter Schlaf gilt in allen Kulturen als ein Merkmal für Gesundheit. „Für psychische Gesundheit stimmt das jedenfalls“, sagt der Psychologe Christoph Augner vom Forschungsinstitut für Grund- und Grenzfragen der Medizin an der Paracelsus Universität Salzburg. Augner war aufgefallen, dass psychisch gesunde Menschen zumeist über gute Schlafqualität berichten.
 Um diese Beobachtung auf ihren Wahrheitsgehalt abzuklopfen, befragte er eine Gruppe von 196 Studenten nach deren Schlafgewohnheiten. Parallel wurden Depressionen, Angststörungen, krankhafte Essgewohnheiten und sonstige psychische Besonderheiten nach üblichen Testverfahren erhoben. Die kürzlich veröffentlichten Resultate ergaben eine eindrucksvolle Bestätigung von Augners Ausgangs-Hypothese: Will man wissen, wie es einem Menschen geht, braucht man nur danach zu fragen, wie gut er schläft. Studenten mit schlechter Schlafqualität zeigten eine viermal höhere Wahrscheinlichkeit für einen hohen Depressionswert. „Das ist insofern bemerkenswert, als es sich um junge Menschen handelte, die eigentlich alle psychisch gesund waren und auch nicht wegen Schlafstörungen in Behandlung waren“, sagt Augner. „Möglicherweise ist hier aber bereits der Keim einer künftigen Krankheit zu erkennen.“

Noch überraschender ist ein erst im vergangenen Jahrzehnt aufgetauchter Zusammenhang, bei dem die Wissenschafter zunächst an einen Zufallsbefund dachten: Wer kürzer schläft, neigt eher zu Übergewicht. Im Sommer 2003 zeigte die berühmte „Nurses Health Study“ – eine 1976 gestartete Langzeitbeobachtung des Gesundheitszzustandes von 100.000 US-amerikanischen Krankenschwestern – dass Frauen, die im Schnitt weniger als fünf Stunden schliefen, ein um 50 Prozent höheres Diabetes-Risiko hatten als Frauen, die acht Stunden schliefen.Im Vorjahr kam ein Team um Francesco Cappuccio von der Universität Neapel in einer Übersichtsarbeit mit ähnlich hoher Anzahl von Teilnehmern, darunter auch Männer, zu einem fast identen Ergebnis.
Mittlerweile gilt der Zusammenhang als etabliert. „Durch zu wenig Schlaf wird die Appetitregulation gestört“, erklärt Schlafforscherin Birgit Högl (Foto links). „Man isst mehr und kann das Gegessene schlechter verstoffwechseln.“ Bei einer internationalen Konferenz der Schlafmediziner Mitte September in Quebec wurden aktuelle Zahlen aus den USA präsentiert, die speziell für die Gruppe der Jüngeren eine weitere Verschärfung der Problematik anzeigen: „Das Handy wird immer mehr zum Schlaf-Killer“, berichtet Högl, die als Vorstandsmitglied der Gesellschaft an der Konferenz teilgenommen hatte.
Kinder und Jugendliche beschäftigen sich laut diesen Berichten nicht nur tagsüber mehrere Stunden mit dem Handy, sie nehmen es auch mit ins Bett. „Die Erhebungen zeigen, dass viele in der Zeit zwischen Mitternacht und drei Uhr früh regelmäßig von SMS-Nachrichten geweckt werden und darauf antworten.“ Daraus ergebe sich eine erhebliche Beeinträchtigung der Schlafqualität. „Und natürlich befürchten wir, dass sich damit auch der Trend zu Übergewicht und Fettleibigkeit weiter verstärkt“, so Högl.

Wer gut und lange schläft, ist eher schlank und auch psychisch gesund, lauten die aktuellen Befunde.
Christoph Scherfler von der Universitätsklinik für Neurologie in Innsbruck wollte wissen, ob man diesen Schluss auch umdrehen kann: Sind Schlafstörungen ein erster Ausdruck organischer Schäden? Um diese Phänomene näher zu untersuchen, gründeten Innsbrucker Neurologen um Vorstand Werner Poewe zusammen mit Kollegen der Universität Barcelona die so genannte SINBAR-Gruppe (Sleep INnsbruck BARcelona). Zunächst nahmen sie sich einer speziellen Gruppe von Schlafstörungen an – „Menschen, die so lebhaft träumen, dass sie anfangen, unkontrolliert im Bett herumzuschlagen", erzählt Scherfler. Weil deren Partner das oft nicht aushalten, „kommen sie zu uns."
Zunächst schlossen die Schlafmediziner jene Patienten aus, deren aggressives Schlafverhalten auf Medikamente, Alkoholentzug und andere bekannte Ursachen zurückzuführen war. Übrig blieben schließlich 26 Patienten mit Schlafstörungen, deren Gehirn im Magnetresonanztomografen nach Veränderungen untersucht wurde. Als Kontrolle dienten die Befunde von 14 Personen ohne Schlafstörungen.
 „Als wir die Resultate in 3D bekamen, war das wirklich beeindruckend“, erzählt Scherfler. „Wir stießen nämlich auf zwei Regionen im Hirnstamm, von denen wir wissen, dass sie an der Regulierung der REM-Schlafphasen beteiligt sind.“ Hier zeigten sich dramatische strukturelle Veränderungen: Zellmembranen, die durch degenerative Prozesse zerstört waren und zum massenhaften Untergang von Nervenzellen führten. Die Ursache der Schlafstörung waren also konkrete Schäden im Gehirn.

Von zusätzlichem Interesse sind diese Ergebnisse im Zusammenhang mit einer immer häufiger auftretenden Krankheit: „Wir wissen, dass etwa drei Viertel unserer Patienten später an Parkinson erkranken.“ Mit Hilfe der MRT-Untersuchung und über den Umweg der Schlafstörung, ist es der SINBAR-Gruppe also gelungen, eine organische Wurzel der Parkinson-Krankheit zu orten. In der Fachwelt schlug diese Nachricht ein wie die sprichwörtliche Bombe. Publiziert wurde die Arbeit in den „Annals of Neurology“, einem der angesehensten Journale der Fachrichtung.
„Interessanterweise fanden wir im betroffenen Bereich auch eine starke Zunahme der Gewebedichte“, erzählt Scherfler. „Das zeigt, dass der Organismus versucht, den Schaden selbst zu reparieren.“ Wenn es gelänge den bislang unbekannten Verursacher des Hirnschadens ausfindig zu machen und den zerstörerischen Prozess zu beenden, wäre also eine Heilung möglich.
Eine zweite Option eröffnet sich im Bereich der Früherkennung. Nachdem nun bekannt ist, in welchen Regionen die Parkinson-Krankheit ihren Ausgang nimmt, lässt sich die Innsbrucker Methode auch gezielt dafür einsetzen, nach Störungen im Anfangsstadium zu suchen.

Eine ähnlich interessante Entdeckung gelang der Arbeitsgruppe bei einer weiteren rätselhaften Krankheit, der Narkolepsie. Die davon betroffenen Patienten werden schlagartig todmüde, verlieren die Muskelkontrolle, brechen zusammen und schlafen gegen ihren Willen ein. Täglich bis zu zwanzig Mal, an allen möglichen Orten. Ein normales Leben ist für die Betroffenen kaum möglich, Auto- oder Radfahren illusorisch Die konkreten Ergebnisse seiner Narkolepsie-Studie will Scherfler noch nicht preisgeben, weil die Publikation gerade im Druck ist.
Dem krankhaften Prozess liegen aber jedenfalls Autoimmun-Prozesse im Gehirn zugrunde, also aggressive, gegen die eigenen Nervenzellen gerichtete Aktionen des Immunsystems.

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang: eine mysteriöse Häufung der sonst sehr seltenen Erkrankung, die offenbar als Folge der Schweinegrippe-Impfaktion im Herbst 2009 aufgetreten sind. Im Lauf des vergangenen Jahres hatten schwedische und finnische Ärzte einen sprunghaften Anstieg von Narkolepsie-Fälle bemerkt. Fast alle betroffenen Patienten waren zuvor mit dem Impfstoff Pandemrix, dem in Europa meistverkauften Präparat, geimpft worden. Das Narkolepsie-Risiko von Kindern, die in Schweden und Finnland damit geimpft wurden, lag um das sechs- bis 13-fache höher als bei nicht Geimpften.
Im Verdacht steht ein Bestandteil der Impfung, nämlich der neuartige Wirkverstärker AS03. In den USA waren solche Zusätze zu Schweinegrippe-Impfstoffen – unter anderem wegen des Risikos autoimmuner Nebenwirkungen – nicht zugelassen worden. Dort sind im Zuge der Pandemie nur zwei Fälle von Narkolepsie bei den Behörden gemeldet worden. In Europa gingen beim Pandemrix-Produzenten GlaxoSmithKline hingegen bisher mehr als 300 Meldungen ein. Anfang August warnte nun auch die Europäische Arzneimittelbehörde EMA in einer Aussendung davor, Pandemrix weiter zu verwenden. Im Gegensatz zu Deutschland ist Österreich von dem Problem nicht betroffen, weil der vom Gesundheitsministerium angekaufte Impfstoff der Firma Baxter keine Wirkverstärker enthielt.

 Ein weiteres heftig diskutiertes Thema im Bereich der Schlafstörungen: der Einfluss der Schichtarbeit auf das Krebsrisiko. Wahrscheinlichster Auslöser für die erhöhte Erkrankungsgefahr ist die Störung der nächtlichen Service- und Reparaturarbeiten des Immunsystems. Während tagsüber das Stress-System regiert, werden nachts die Zellen der Immunabwehr aktiv. Sie beseitigen Krebswucherungen im Anfangsstadium und führen über Mikroentzündungen kleine oder größere Reparaturen durch.
Wenn nun nachts nicht geschlafen, sondern gearbeitet wird, dann ergibt sich für den Organismus ein hormoneller Widerspruch. Das Stresshormon Cortisol bleibt aktiv und unterdrückt das Anlaufen der nächtlichen Service-Arbeiten. Bereits seit 2007 gilt die Verschiebung der Arbeitszeit in die Nacht laut WHO als „wahrscheinliches Karzinogen“.
Wie dem Problem begegnet werden kann, bleibt umstritten. Am ehesten, so zeigte eine im August veröffentlichte dänische Untersuchung, gelingt dies mit einer intelligenten Anpassung der Arbeitszeiten. Zu diesem Zweck wurden die bei dänischen Krankenschwestern aufgetretenen Brustkrebsfälle mit deren Schichtplänen verglichen. Ergebnis: Nachtschwestern trugen ein fast doppelt so hohes Krebsrisiko wie Tagschwestern. Keine Risikoerhöhung zeigte sich bei Bediensteten, die ihren Dienst vor Mitternacht beendeten. Ein gleich dreifach erhöhtes Brustkrebsrisiko hatten jene Frauen, deren Schichtpläne über viele Jahre zwischen Tag und Nacht- sowie permanenter Nachtschicht hin und her pendelten.

Doch es ist nicht allein die Schichtarbeit, von der die Gefahr aus geht. Auch wer zu Hause die Nacht zum Tag macht und regelmäßig bis nach Mitternacht das Licht eingeschaltet lässt, sabotiert jene Nachtarbeit, die ganz eindeutig der Gesundheit dient: die Nachtschicht des Immunsystems.

Dieser Artikel ist Anfang Oktober 2011 als Cover-Story im Nachrichtenmagazin profil erschienen.