Freitag, 24. September 2010

Interview zur Gesundheitsreform

Gestern meldete sich Eva Schmidt, eine Redakteurin des bayrischen "Radio Lora" und führte mit mir ein Interview zur Deutschen Gesundheitsreform. Hier auf der Webseite von Radio Lora zum Nachhören.

Donnerstag, 23. September 2010

Geburt mit Tumor

Wie ein Zufallsbefund eine Schwangerschaft in puren Horror verwandelte.

„Eigentlich“, sagt die 42-jährige Bauingenieurin Florence H. aus Erlaa, NÖ, „bräuchte nach so einem Erlebnis die gesamte Familie eine Therapie“. So ein Schock sagt sie, wirke jahrelang nach, „und jede Erleichterung wird immer wieder überlagert von einer tiefen Erschöpfung.“ Neben ihr spielt ihre jüngste, 15 Monate alte Tochter Solveig, die es nicht geben würde, wenn alles nach dem Plan der Ärzte gelaufen wäre. Mittlerweile liegt ihre Krebs-Diagnose fünf Jahre zurück, ein genügend langer Zeitraum, um offiziell von Heilung zu sprechen.
Florence H. war damals mit Fabian schwanger, ihrem zweiten Kind. In der 20. Woche fand ihr Gynäkologe einen kleinen Polypen am Gebärmutterhals und entfernte diesen. Mehr als eine Woche später rief der Arzt an und bat Florence, sie sollte mit ihrem Mann Reinhold sofort in die Praxis kommen. Dort eröffnete er ihnen, dass das Gewächs sich als extrem bösartiger Tumor erwiesen hätte. Er empfahl die sofortige Abtreibung des Fötus und eine Total-Entfernung der Gebärmutter. Dann hätte sie vielleicht noch eine Chance. Aber nur, wenn es rasch geht.
Die beiden waren geschockt. Es folgte ein dreitägiger Diagnose-Marathon im Wiener AKH, bei dem unter anderem auch noch ein sorgfältiger Abstrich von der verdächtigen Stelle am Gebärmutterhals genommen wurde. Das Ergebnis war ernüchternd: „Pap V“ heißt, dass im Abstrich Zellen des bösartigen Tumors gefunden wurden.
Florence wollte keine Abtreibung. Als nächste Option nannten die Ärzte eine Kaiserschnitt-Entbindung in der 29. Schwangerschaftswoche mit Inkubator und sofortiger Krebstherapie. Die Chance, dass ihr Baby gesund wäre, stünden dann bei etwa 50 Prozent. „Ich sah mich mit künstlichem Darmausgang, einer großen Narbe am Bauch und einem behinderten Baby und da war ich mir plötzlich sicher, dass ich diese Krebstherapie niemals überlebt hätte“, erzählt Florence H.. Gemeinsam mit ihrem Mann beschloss sie, den Krebs zu ignorieren und das Baby möglichst zum Termin zu bekommen, so als ob alles ganz normal wäre.
Bei den Untersuchungen zeigte sich, dass der Tumor wieder nachgewachsen war, größer als der Polyp mit dem alles angefangen hatte.
Fabian ist heute ein gesunder, aufgeweckter Fünfjähriger (Fotos: B. Ehgartner)

Der Geburtstermin rückte näher und schließlich fanden die beiden im St. Josef-Krankenhaus eine Gynäkologin, die sich auf eine ambulante Geburt ohne Kaiserschnitt einlassen wollte. Die Gynäkologin war dann aber gar nicht da, als die Wehen, drei Wochen vor dem Termin einsetzten, sondern ein diensthabender Oberarzt. Vom Tumor sagten sie ihm nichts. Schließlich gingen die Presswehen los. „Und dann ging alles ganz rasch“, erzählt H. „Als erstes kam der Tumor und dann das Baby.“ – Der Oberarzt war völlig überrascht. „Während der Presswehen rief ich ihm noch zu, er soll das Gewebe aufheben, aber er hat es einfach weg geschmissen.“ Fabian, das Baby, war mit 2,39 kg sehr zart, galt aber nicht als Frühgeburt, und so verließen die drei rasch das Krankenhaus.
Nach der Geburt wollte sich Florence H. nun endgültig der Krebstherapie stellen. Erstaunlicherweise ergab der nächste Abstrich aber nur noch „Pap IV“ und binnen weniger Wochen war der Test sogar bei „Pap II“ angelangt. „Und das ist schon fast jungfräulich.“
Mittlerweile ist mit Solveig das dritte Kind gekommen. Die Geburt verlief ganz unspektakulär und entspannt. Alle in der Familie H. sind nun gesund. Doch manchmal, in schwarzen Stunden, tauchen plötzlich Gefühle aus der Vergangenheit auf, die nur sehr sehr schwer auszuhalten sind…

Dieser Artikel erschien im Rahmen der profil Coverstory "Gesund bis der Arzt kommt. Näheres zur Problematik der Früherkennung des Zervix-Karzinoms finden Sie in meinem Artikel "Vorsorge mit Abstrichen".

Mittwoch, 22. September 2010

Dement durch Psychopillen

Ein Knochenbruch ist bei älteren Menschen oft der Anfang vom Ende. Bei der Entlassung aus dem Spital sind sie dement.

Im Juni 2009 geschah das erste Verhängnis. Die 88-jährige Antonia Geier* stürzte unglücklich und brach sich den Oberschenkelhals. Die pensionierte Zahnärztin aus Wien-Hiezing wurde ins Wiener AKH eingeliefert. Nach der Operation wollte sie ständig aus dem Bett steigen und musste angebunden werden. Sie randalierte, bekam schließlich verschiedene Psychopharmaka. Entlassen wurde sie mit der Diagnose „Senile Demenz“.
„Für die ganze Familie war das ein Schock“, erzählt die Tochter Evelyn Bohrn*, „vor dem Sturz war Mutter geistig vollständig klar. Sie besorgte für sich und meinen Vater selbstständig den Haushalt.“
An Dauer-Medikamenten hatte sie nur ein Blutdruck-Mittel und gelegentlich ein Schlafmittel genommen. Nun wurde sie mit einem Arztbrief entlassen, in dem empfohlen wurde, folgende Therapie einzuhalten: „Norvasc, Concor, Citalopram, Pantoloc, Ebrantil, Iterium, ACC, Haldol, Furon, Mexalen, Dominal und Risperdol.“
Vier dieser zwölf Medikamente sind Psychopharmaka, die bei Depressionen, schweren Psychosen oder Schizophrenie angewendet werden. Die betagte Frau sollte diese Mittel jeweils viermal täglich einnehmen. „Sie torkelte durch die Wohnung, konnte nicht normal reden und war komplett inkontinent“, berichtet die Tochter. „Wenn sie einmal zu einem Satz ansetzte, schlief sie mitten drin ein“. Evelyn Bohrn beriet sich mit einer Fachärztin. Flüssigkeitsmangel, einer der Hauptgründe für Demenz, konnte ausgeschlossen werden. Blieben die Pillen. Unter Anleitung begann nun der schrittweise Entzug der Medikamente.
Langsam wurde ihre Mutter wieder klarer. „Sie fragte plötzlich, warum wir sie frisieren – und warum wir sie nicht selbst anziehen lassen.“ Nach drei Monaten war sie annähernd wieder so, wie vor dem Unfall. An Klinik und Rehabilitation hatte sie keinerlei Erinnerung zurück behalten.
Im Oktober passierte dann das nächste Maleur. Antonia Geier stürzte wieder und brach sich den zweiten Oberschenkel. Diesmal wurde sie in das Wilheminenspital eingeliefert. Binnen kurzem gab man ihr wieder alle Medikamente, die auf dem Arztbrief angeführt waren. Der darüber sehr besorgten Tochter erklärten Ärzte und Pfleger, dass ihre Mutter die Mittel braucht, um nachts zu schlafen. Das sei für den Heilungsprozess unbedingt nötig.
Wieder wurde Frau Geier mit der Diagnose „Senile Demenz“ entlassen. Der Arztbrief umfasste mit 14 Medikamenten noch um zwei Präparate mehr als beim letzten Mal. Diesmal schaffte es die Tochter nicht, den Entzug ihrer Mutter allein zu begleiten. Sie musste zwei Pfleger engagieren, die rund um die Uhr im Haus waren. „Es dauerte acht harte Wochen bis meine Mutter nicht mehr verwirrt und inkontinent war“, erzählt Evelyn Bohrn. „Am schlimmsten war der Entzug von Dominal. Da litt sie zwei Wochen an ständigem Schüttelfrost.“
Mittlerweile ist Frau Geier wieder „fast die Alte“. Lediglich das Kurzzeit-Gedächtnis kehrte nicht mehr vollständig zurück. Wenn die alte Dame kocht, vergisst sie, die Platte abzuschalten. Die Eltern sind deshalb zur Tochter gezogen. Eins hat Frau Bohrn aber mittlerweile gelernt: Dass das Schicksal ihrer Mutter bei weitem kein Einzelfall ist. „Seit uns das passiert ist, berichten rundum im Bekanntenkreis die Leute von ähnlichen Geschichten. Einen halbwegs glücklichen Ausgang, so wie bei uns, gab es da jedoch nirgends.“

* Name auf Wunsch geändert

Donnerstag, 16. September 2010

Gesund bis der Arzt kommt

Vorsorge. Eine Flut von Gesundheitschecks, neue Risikofaktoren, immer niedriger angesetzte Grenzwerte. Bald gilt jeder Gesunde als krank – nicht immer zum Wohle der Patienten. Aber im Sinne der Pharmaindustrie.

Der Arzt liest die Zahlen vom Blutdruck-Gerät: „165 zu 100“ – und sagt dazu „viel zu hoch!“. Für die 70jährige Pensionistin Maria Klein bedeutet dies, dass sie sich ab sofort wieder an eine neue Pille gewöhnen muss. Es ist nun bereits das zweite Blutdruck-Medikament, das sie täglich einnehmen soll. Sie fragt den Arzt, wie lange sie das Mittel benötige. Und die Antwort lautet – nicht gerade im optimistischsten Tonfall: „Bis sich endlich etwas tut!“

Vor nicht allzu langer Zeit lautete die Faustregel beim Blutdruck noch „Lebensalter plus 100“. Da wäre Frau Klein mit ihrem Wert noch im Referenzbereich gelegen. Doch die Zeiten ändern sich. Die Grenzwerte purzeln generell in immer tiefere Regionen. Nicht nur für ältere Menschen erscheint es zunehmend unmöglich, im „grünen Bereich“ zu bleiben. Im Lauf des Lebens summieren sich die Dauermedikamente wie Jahresringe. „Gesund ist nur, wer noch nicht ordentlich untersucht worden ist“ – nie war dieser Kalauer realitätsnäher. 65-jährige haben im Schnitt heute drei chronische Krankheiten. Auch für die Jüngeren wird das Fangnetz immer dichter geknüpft, bis schließlich kaum noch jemand durch die Maschen schlüpft.

Wie dramatisch die Lage ist, zeigte kürzlich ein isländisch-norwegisches Forscherteam am Beispiel der Europäischen Leitlinien zur Behandlung des Bluthochdrucks. Diese sind seit 2007 offiziell in Kraft, wurden von ausgewählten Experten der europäischen Kardiologie- und Hypertonie-Gesellschaft erstellt, in zahlreichen Konferenzen diskutiert und abgestimmt. Man sollte also annehmen, dass die Konsequenzen ihrer Umsetzung in die tägliche ärztliche Praxis bekannt wären und zum Wohl und zur Gesundheit der Europäer beitragen.
Umso größer war die Überraschung, als die Wissenschafter die Leitlinien einfach einmal anwandten – und zwar auf Norwegen, eines der reichsten Länder der Welt mit bekannt gesunden und langlebigen Bewohnern. Für ihr Experiment verwendeten die Forscher ein repräsentatives Modell der norwegischen Bevölkerung, das aus den Gesundheits-Daten von mehr als 50.000 Personen gespeist wurde.
Das Ergebnis: Drei von vier Nordländern im Alter zwischen 20 und 89 Jahren erwiesen sich nach den strengen Richtlinien als dringend behandlungsbedürftig oder benötigten zumindest ein engmaschiges Netz regelmäßiger ärztlicher Kontrollen. Besonders marod zeigte sich die Altersgruppe der 50- bis 64-jährigen, wo sogar 99 Prozent der Bevölkerung klinischer Aufmerksamkeit bedurften, um die weitere Entwicklung ihres Herz-Risiko-Profils zu überwachen und in eine günstigere Richtung zu dirigieren. Nun kamen neben dem Blutdruck auch noch andere Risikofaktoren ins Spiel: Allen voran die Blutfette, der Blutzucker und das Übergewicht. Im Schnitt ergäben sich laut Studie für jeden Erwachsenen drei zusätzliche Arztbesuche pro Jahr.

Damit die Mediziner diesen Ansturm bewältigen könnten, müsste die Zahl der Ärzte – allein zur Umsetzung der Blutdruck-Leitlinie – mehr als verdoppelt werden. Rechnet man dazu noch die Kosten für die Unzahl an Laborbefunden, Verschreibungen und Folgetherapien in das Szenario mit ein, stünde das norwegische Gesundheitssystem mit einem Schlag am Rande des Ruins, warnen die Autoren der Studie – nicht ohne die Blutdruck- und Herzexperten gehörig zu rüffeln: „Unserer Ansicht nach kann eine derartig weitreichende Vorsorge-Maßnahme nur dann als wissenschafts-basiert angesehen werden, wenn auch die Konsequenzen ihrer Umsetzung offen diskutiert und transparent gemacht werden.“
Nun scheint es kaum denkbar, dass die Urheber der EU-Leitlinien nicht wussten, dass weit mehr als die Hälfte der Europäer Werte hat, die über die als „normal“ definierte Spanne von 120-129 Millimeter Quecksilbersäule (mmHg) beim systolischen, beziehungsweise 80 bis 84 mmHg beim diastolischen Blutdruck deutlich hinaus gehen.

Den Takt geben zumeist die Amerikaner vor – nicht nur beim Blutdruck. Mit der Absenkung des Blutzuckergrenzwertes von 110 Milligramm pro Deziliter Blut (mg/dl) auf 100 mg/dl wurde die Zahl der Diabetiker in den USA im Jahr 2003 mit einem Schlag von vier auf 30 Millionen erhöht. Ein Jahr später übernahm auch Europa diesen Wert. Nun diskutieren die Fachgesellschaften bereits, ob eine erneute Senkung des Grenzwertes auf 95 mg/dl angebracht wäre.
Beim Cholesterin ist es kaum noch möglich, die Grenzwerte weiter abzusenken. Hier gilt bereits seit Mitte der achtziger Jahre ein oberes Limit von 200 mg/dl. Dies erscheint in einem besonders originellen Licht, wenn man weiß, dass der Durchschnittswert bei 40-jährigen Frauen in Österreich bei etwa 220 mg/dl liegt, bei Männern sogar bei 235 mg/dl. Im Alter von etwa 60 Jahren gleichen sich die Geschlechter bei 245 mg/dl an. Erst gegen Lebensende fällt der Wert rapide ab. Eigentlich wäre es demnach wesentlich rationaler, sich vor einem Absinken des Cholesterinspiegels zu fürchten. Die Überlegungen gehen dennoch in die Gegenrichtung. „Derzeit wird über eine Absenkung auf 180 mg/dl geredet“, sagt Martin Sprenger, Gesundheitsexperte der Medizinischen Universität Graz.
Dahinter stecke laut Sprenger durchaus Kalkül. Geld verdient werde nämlich nicht mit Medikamenten für den Akutbedarf, etwa für  eine nach wenigen Tagen abgeschlossene Antibiotika-Behandlung, sondern für Dauermedikamente, die möglichst ein restliches Leben lang täglich genommen werden. „Derzeit halten wir hier bei einem Anteil von 70 bis 80 Prozent“, sagt Sprenger. „Und die Industrie versucht, diesen Markt immer weiter auszureizen.“ Die Behandlung von stark erhöhtem Blutdruck bringe einen großen Nutzen, erklärt Sprenger. Allerdings sei hier der Markt relativ klein. „Je niedriger die Grenzwerte gezogen werden, desto größer wird der Markt. Umso kleiner wird allerdings der Nutzen, den ein Medikament für den einzelnen Menschen bringt.“
Weitere Hilfsmittel bei der Eroberung des Marktes sind die immer zahlreicher werdenden Risikofaktoren, bestimmte Entzündungswerte, die Knochendichte sowie ein Mangel an Vitaminen, Eisen oder anderen Spurenelementen. Relativ neu am Markt ist das Modell der hochpreisigen Impfungen, die als eine Art Versicherungspolizze für eine gesunde Zukunft verkauft werden.

Eine besonders perfide Strategie, sagt Sprenger, werde mit neuen Tests, etwa auf ein vererbtes Risiko, verfolgt. Wer mit 36 Jahren erfährt, dass er ein genetisch bedingt stark erhöhtes Alzheimer- oder Prostatakrebs-Risiko hat, gehört damit ab sofort zur Gruppe der so genannten „worried well“, der „besorgten Gesunden“. Diesen Personen werden regelmäßige Untersuchungen oder vorbeugende Präparate angeboten. „Über diesen Köder sind viele, die sich vollständig gesund fühlen, dann auch bereit, sich in die Maschinerie zu begeben.“
Das Absenken der meisten Grenzwerte auf das Niveau von topfitten Jugendlichen führt dazu, dass beim Gesundheits-Check oder der Vorsorge-Untersuchung bei fast jedem Menschen irgendein Wert im roten Bereich liegt. Nach einer Logik, die der Pickerl-Überprüfung von PKWs nachempfunden ist, wird dann versucht, die Messwerte wieder in den Normbereich zu bringen. Zunächst mit allgemeinen Empfehlungen zum Abnehmen, zur gesunden Ernährung oder zur Bewegung, aber rasch auch mit pharmazeutischen Hilfsmitteln.
Immer häufiger zeigte sich in den vergangenen Jahren jedoch, dass das Prinzip der Auto-Reparatur doch nicht so einfach übernommen werden kann. Speziell bei chronisch Kranken hat die Abweichung von der Norm auch eine biologisch sinnvolle Funktion.  Ein höherer Blutdruck ermöglicht es beispielsweise, die Sauerstoffversorgung entlegener Regionen im Körper aufrecht zu halten oder auch das Herz ausreichend zu versorgen, wenn Gefäßschäden bereits fortgeschritten sind. Eine Steigerung des Blutdrucks hat auch den Zweck, die Durchfluss-Geschwindigkeit der Nieren zu erhöhen, sobald dies den internen Schadstoff-Kontrolloren nötig erscheint.
Ein erhöhter Zuckerwert zeigt jedenfalls an, dass mehr Zucker über die Nahrung zugeführt wird, als der Organismus benötigt. Wenn der überschüssige Zucker über Medikamente oder von außen zugeführtes Insulin „verwertet“ wird, so geschieht dies gegen die ursprüngliche Absicht der Stoffwechsel-Regulatoren. „Stellen Sie sich einen Gesundheitspolitiker vor, der sagt: ´Für einen Typ 2-Diabetiker brauchen wir eigentlich keine Medikamente, sondern vor allem Disziplin´“, erklärt Christian Euler, Präsident des Österreichischen Hausärzteverbandes. „Es gibt gute wissenschaftliche Argumente für so eine Sichtweise. Aber den Mut, das öffentlich zu sagen, bringt niemand auf.“
Tatsächlich erwies sich die gebetsmühlenartig wiederholte Botschaft, dass es für die Gesundheit eines Diabetikers am wichtigsten sei, wenn er „gut eingestellt“ ist, immer deutlicher als Werbebotschaft der Industrie. Eine ganze Reihe von Studien zeigte nämlich, dass bei besonders gut eingestellten Diabetikern mit zu niedrigen Zielwerten das Risiko der Unterzuckerung ansteigt, was deren Sterbe- und Demenzrisiko dramatisch erhöht. „Die Ärzte haben als Advokaten ihrer Patienten versagt“, kritisiert der Grazer Diabetes-Experte Thomas Pieber die allzu späte Einsicht seiner Zunft. „Sie hätten warnen und hinterfragen müssen – und nicht alles willfährig übernehmen, was ihnen von der Industrie vorgelegt wird.“
Auch bei dem aus den 1980er Jahren stammenden Dogma vom „bösen“ Cholesterin, das über die Nahrung aufgenommen wird und den Körper vergiftet, wächst die Kritik. Wie eigenartig dieser Ansatz von Anfang an war, zeigt die Tatsache, dass der Organismus etwa 90 Prozent des benötigten Cholesterins selbst herstellt und nur ein kleiner Teil des in der Nahrung enthaltenen Cholesterins überhaupt genutzt wird. Der Rest wird einfach ausgeschieden.

Dazu ist Cholesterin für uns schlicht überlebenswichtig. Es ist Bestandteil der Außenmembran jeder Zelle. Zusammen mit Proteinen wirkt es an der Ein- und Ausschleusung von Signalstoffen mit. Aus ihm entstehen Geschlechtshormone, Gallensäuren sowie das wichtige Vitamin D. Weil es als Teil der fettigen Plaque an der Innenseite schadhafter Gefäße identifiziert wurde, bekam es aber rasch das Image von purem Gift verpasst. Voreilig, wie viele Wissenschafter heute meinen. Mittlerweile wird sogar darüber diskutiert, ob Cholesterin eine Rolle bei der Reparatur dieser Zellschäden spielt.
Grobe Risse bekam das Glaubensgebäude, als die künstliche Senkung der Cholesterinwerte über spezielle Medikamente dauerhaft wenig Effekt zeigte. Bestes Beispiel ist hier der Wirkstoff Ezetimib, der auf Grund seiner stark cholesterinsenkenden Wirkung ursprünglich als Shooting-Star unter den neueren Arzneimitteln galt. Doch eine im vergangenen November publizierte Studie zeigte, dass dies keinen Einfluss auf die Kalkablagerungen in den Gefäßen hat. Während der LDL-Spiegel sank, wuchsen diese Plaques sogar stärker als in der Kontrollgruppe mit deutlich höherem Cholesterinspiegel.
Weil Cholesterin ein Bestandteil tierischer Nahrungmittel ist, wurden gleich auch die tierischen Fette in Verruf gebracht. Hier wird nun immer stärker zurück gerudert. Erst vor drei Wochen publizierten Wissenschafter der Universität Harvard die bisher größte Übersichtsarbeit zum Risiko von gesättigten Fettsäuren in Nahrungsmitteln, wie sie vor allem in tierischen Fetten wie  Butter oder Schweineschmalz aber auch in Kokosfett oder Palmöl enthalten sind. Zu diesem Zweck werteten die Forscher 21 Großstudien mit zusammen 347.747 Teilnehmern aus, die über einen Zeitraum von fünf bis 23 Jahren beobachtet worden waren. Ergebnis: Es gibt keinerlei Beweis dafür, dass gesättigte Fettsäuren das Risiko für Herzinfarkt oder Schlaganfall erhöhen.
Kritiker des Gesundheitswesen meinen, dass etwas weniger gewarnt werden un sollte. „Für Entwarnung fühlt sich aber kaum jemand zuständig“, kritisiert die Hamburger Gesundheitswissenschafterin Ingrid Mühlhauser, „und Angst ist leider ein sehr gutes Manipulationsmittel.“
Wie gut das funktioniert, bewies die zurückliegende Schweinegrippe-Pandemie, die für einen weltweiten Geldregen bei den Herstellern der Medikamente und Impfstoffe führte. Wie wenig wir jedoch in Wahrheit über die biologischen Konsequenzen dieser weltweiten Vorsorge-Kampagnen wissen, illustriert ein Beispiel aus Kanada. Als dort vor einem Jahr die erste Welle der Schweinegrippe auftrat, machten die Ärzte eine eigenartige Beobachtung: In den Schulen erkrnakten vor allem jene Kinder, die zuvor gegen die normale Grippe geimpft  worden waren. Die Gesundheitsbehörden gaben vier Studien in Auftrag, um diese These zu prüfen. Die in der Vorwoche veröffentlichten Resultate erhärten den Verdacht: Tatsächlich hatten geimpfte Personen im Schnitt ein doppelt so hohes Risiko, an Schweinegrippe zu erkranken als solche, die nicht gegen die normale Grippe geimpft waren.
Wie lässt sich dieser Zusammenhang erklären? Wie kann eine Impfung, die gegen ganz andere Grippeviren schützt, plötzlich das Infektionsrisiko bei der „Neuen Grippe“ erhöhen? Und welche Auswirkungen hätte so ein Effekt auf die öffentliche Empfehlung zur Influenza-Impfung? Die Antwort steht noch aus.
In den vergangenen Jahren wurden die Angebote zur Früherkennung von Krankheiten erheblich ausgeweitet. Damit wird in der öffentlichen Wahrnehmung stets eine bessere Heilungs-Chance assoziiert. Was aber, wenn über die technisch immer raffinierter werdenden Diagnose-Geräte Vorstufen oder Frühstadien von Krankheiten entdeckt werden, die von selbst wieder ausgeheilt wären – wenn wir nicht danach gesucht hätten?
In welcher Dimension dieses Problem auf uns zukommt, zeigt ein groß angelegtes Programm, das derzeit im deutschen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern läuft. In einer Kooperation der Universität Greifswald mit der Siemens AG sollen 4000 Personen in die Röhre eines Magnetresonanztomografen (MRT) geschoben und genauestens durchleuchtet werden. Ein erster Testlauf mit 200 Freiwilligen wurde bereits absolviert. Resultat: Um die Gesundheit der „Mecklenburger“ ist es miserabel bestellt.
Nur bei zehn Prozent der Probanden wurden keine krankhaften Veränderungen entdeckt, diese waren demnach „ganz gesund“. Weitere zehn Prozent konnten nach einigen zusätzlichen Tests, die zur Abklärung nötig wurden, ebenfalls als gesund entlassen werden. Aber bei den restlichen 80 Prozent fanden sich unter anderem ein Hirntumor, verengte Herzkranzgefäße, Brustkrebs in verschiedenen Vorstadien sowie Tumore in der Lunge und im Bauchraum. Dabei waren alle Teilnehmer, die sich für diese Studie in den MRT legten, überdurchschnittlich gesundheitsbewusst, ohne akute Beschwerden und zudem noch relativ jung, im Schnitt gerade einmal 48 Jahre alt. Was wäre hier erst zu erwarten, wenn dieses Ganzkörper-Screening für eine noch etwas ältere Gruppe der Normalbevölkerung angeboten würde. Was macht man mit einer Methode, die mehr als 90 Prozent der Teilnehmer als krank überführt
Das deutsche Beispiel zeigt eindringlich, dass sich offenbar nicht alle Krankheiten als solche manifestieren, sondern von selbst wieder verschwinden. Bekannt ist dieses Phänomen bislang vor allem von den Programmen zur Früherkennung des Zervix-Karzinoms. Hier werden Zellen vom Gebärmutterhals abgenommen, fixiert und dann im Labor begutachtet. „Bei jüngeren Frauen ergeben sich häufig Veränderungen, die Krebsalarm auslösen, aber nahezu immer von selbst wieder ausheilen“, erklärt Ahti Anttila, der Koordinator des Finnischen Screening Programmes, gegenüber profil.
Als Konsequenz wurde ein Mindestalter von 30 Jahren eingeführt. Genauso problematisch sei es, wenn zu häufig untersucht wird, sagt Anttila. „Wir wissen, dass ein Vorstadium mindestens zehn Jahre braucht, um sich in einen invasiven Tumor zu verwandeln.“ Die Konsequenz der Finnen: Die Frauen werden nur alle fünf Jahre untersucht. Dann jedoch mit persönlicher Einladung und peinlich genauer Qualitätskontrolle, um zu vermeiden, dass Abstriche schlampig entnommen und die Zellen im Labor nicht interpretiert werden können. Dies führte sogar dazu, dass alle Gynäkologen aus dem offiziellen Programm ausgeschlossen wurden, weil sie Schulungen verweigerten.
Die Abstriche werden nun zur allgemeinen Zufriedenheit von Hebammen und Krankenschwestern durchgeführt. Mit dieser Taktik erreichte Finnland die weltweit mit Abstand niedrigste Sterblichkeit beim Zervix-Karzinom, hierzulande liegt sie im Vergleich mehr als doppelt so hoch. In Österreich wird nach wie vor das „wilde Screening“  praktiziert, wo Frauen meist schon ab 18 – und oftmals im Halbjahres-Intervall – untersucht werden. Das Ergebnis sind wesentlich mehr unnütze Eingriffe, mehr Krebs-Therapien und Gebärmutter-Operationen bei großteils fehlender Qualitätskontrolle. Von einer Initiative, hier den erfolgreichen Weg der Finnen zu kopieren, ist keine Rede. „Wir wissen, dass sich die Gynäkologen sehr schwer tun, diese natürlichen Abläufe zu verstehen“, sagt Anttila. „Und manche meinen auch, sie könnten schlechte Untersuchungsqualität dadurch kompensieren, dass sie öfter untersuchen. Aber das ist ein Irrtum.“

In Österreich wird derzeit intensiv am ersten bundesweiten Brustkrebs-Früherkennungsprogramm gearbeitet. Auch in diesem Bereich hinken wir anderen Staaten Jahre hinterher. „Das hat aber auch Vorteile“, wie Projektleiter Alexander Gollmer von der Gesundheit Österreich GmbH betont. „Wir können hoffentlich viele Fehler vermeiden, die anderswo begangen wurden.“ Ab Jänner 2011 sollen die ersten Einladungsbriefe an Frauen in der Altersgruppe zwischen 50 und 69 Jahren verschickt werden. Laut EU-Leitlinie soll damit die Sterblichkeit beim Brustkrebs langfristig um bis zu 30 Prozent gesenkt werden. „Das ist aber sicher viel zu optimistisch“, sagt Gollmer.
Jedenfalls werde viel Wert darauf gelegt, Frauen korrekt zu informieren und auch die Risiken nicht zu verschweigen. Dazu gehört  die Übertherapie von Tumoren. Viele der entdeckten Gewächse befinden sich noch in einem Vorstadium. Die Krebszellen sind dabei von einer Kapsel umgeben. Niemand weiß, wann – und ob überhaupt – der Tumor diese Hülle durchstößt. Allein über die Mammographie hat sich die Anzahl dieser Befunde in den vergangenen Jahren vervielfacht. Diese Vorstadien siedeln sich zudem meist neben den Milchdrüsen an – und sind chirurgisch relativ schwer zu fassen. Deshalb entscheiden sich viele Frauen zur Amputation.  Um ganz sicher zu gehen.

Dieser Artikel ist im Frühjahr 2010 zum Erscheinen meines Buches "Gesund bis der Arzt kommt" im Nachrichtenmagazin profil als Coverstory veröffentlicht worden.

Montag, 13. September 2010

"Relevanz der Borreliose-Impfung geht gegen Null"

Ob Tiere an Borreliose erkranken können, ist höchst ungewiss. Ebenso ungewiss ist demnach auch der Nutzen der Impfung für Hunde.

Pferde scheinen mit Borrelien kaum Probleme zu haben. Experimente mit künstlicher Infektion von Ponys hatten keinerlei Krankheits-Symptome zur Folge. Auch Katzen lassen die Bakterien scheinbar kalt. Obwohl bis zu einem Drittel der Tiere im Antikörper-Test positiv sind, also nachweislichen Kontakt mit Borrelien hatten, sind Erkrankungen bei Katzen in der Medizinliteratur nahezu unbekannt. Bei Hunden wurde in einigen Tierexperimenten gezeigt, dass es möglich ist, über die künstliche Infektion mit Borrelien Gelenksentzündungen auszulösen. Ob dies jedoch von praktischer Bedeutung ist, weiß niemand so genau, zumal in anderen Studien keinerlei gesundheitliche Folgen beobachtet wurden. Hunde in belasteten Gebieten haben zudem derart oft Zecken, dass Borrelien-Infektionen eher die Regel, denn die Ausnahme sind.

Eine der sorgfältigsten Arbeiten zu dieser Frage wurde kürzlich von Veterinären der Universität Zürich veröffentlicht. Die Tierärzte wollten prüfen, ob die bekannte Anfälligkeit von Berner Sennenhunden auf Nieren- und Gelenksprobleme etwas mit Borreliose zu tun haben könnte, zumal diese Tiere scheinbar wie Magneten auf Zecken wirken. Dafür wurden 160 dieser massigen Rassetiere mit 62 Kontrollhunden verglichen. Tatsächlich zeigte sich eine enorme Durchseuchung der Berner Sennenhunde mit Borreliose. Bei ihnen reagierten 58 Prozent positiv auf den Test gegenüber nur 15 Prozent in der Kontrollgruppe. Knapp drei Jahre später wurden die Tiere noch einmal untersucht. Elf der Sennenhunde hatten mittlerweile eine Nierenschwäche entwickelt, in der Vergleichsgruppe kein einziges. Mit dem Borreliose-Status hatte das jedoch ebenso wenig zu tun wie bei den Symptomen von Lahmheit. Die positiv getesteten Tiere hatten weder bei den Sennen–, noch bei den Kontrollhunden ein höheres Risiko. Es dürfte sich also, so der Schluss der Schweizer Veterinäre, um ein spezifisches Problem dieser hoch gezüchteten Rasse handeln.
Ob eine Impfung der Hunde gegen Borreliose sinnvoll ist, wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Von der österreichischen Tierärztekammer wird die Spritze, die rund 30 Euro kostet, zur Vorsorge gegen die „meist chronisch verlaufende Infektionskrankhiet, die schwer zu diagnostizieren ist“, wärmstens empfohlen: Zweimal zur Grund-Immunisierung und dann jährlich zur Auffrischung.
„Die Relevanz der Impfung geht gegen Null“, urteilt hingegen Michael Leschnik von der Veterinärmedizinischen Universität in Wien. Dies liege zum einen daran, dass Borrelien des Types „burgdorferi“ zwar in den USA, wo die Impfung entwickelt wurde, weit verbreitet sind, in Europa komme diese Art aber gerade mal auf 10 Prozent. Den Rest der Infektionen teilen sich Borrelien der Typen „afzelii“ und „garinii“. „Dass die Impfung auch gegen diese Arten wirkt, ist eine Behauptung des Herstellers, für die bisher der Beweis nicht erbracht worden ist“, sagt Leschnik.
Wie diesen Bakterien wirksam zu begegnen ist, weiß das Immunsystem der Vögel, welches den „afzelii“-Typus sofort abtötet. Ähnlich verfahren Nagetiere mit „garinii“. Umgekehrt wird jedoch afzelii von den Nagern und garinii von den Vögeln sehr wohl toleriert. Weder erkranken sie, noch bekämpfen sie die Infektion. Und wenn sich Zecken an ihrem Blut bedienen, so bringen sie damit auch die Borrelien unters Volk. Mit welchem Ergebnis auch immer.


Tarnen und täuschen

Gerade ihre geringe Aggressivität hilft den Borrelien, der Immunabwehr – oft über Monate und Jahre – zu entkommen.


Foto: G. Stanek / Med. Univ. Wien

Borrelien gehören zur den Spirochäten, einer Gruppe schraubenförmiger, sich aktiv bewegender Bakterien, die für Menschen meist ungefährlich sind. Ausnahme sind eben die Borrelien, die neben der Lyme-Borreliose auch noch verschiedene Formen von Rückfallfieber auslösen können, sowie die nahe verwandte Gattung der Treponema, den Erregern der Syphilis.
Zecken übertragen die Borrelien aus ihren Reservoir-Wirten – etwa Ratten, Mäusen oder Vögeln – auf andere Lebewesen, und bilden damit ihr mit Abstand wichtigstes Verbreitungs-Vehikel. Insofern haben sich die Borrelien im Lauf der Evolution perfekt auf die Zecken eingestellt. Wenn eine Borrelien infizierte Maus von einer Zecke gestochen wird, so empfangen die Borrelien über den Speichel der Zecke ein Signal und bewegen sich in der Folge im Blutkreislauf der Maus aktiv auf die Einstichstelle zu, um sich von der Zecke aufsaugen zu lassen. Sie sind sozusagen ihr Tor zur Welt, der Zeckendarm ihr ideales Reservoir, in dem sie auch überwintern.
Wenn die Zecke einen neuen Wirt findet und sticht, so werden die Borrelien aktiviert. Sie strömen dauraufhin zu den Speicheldrüsen wo sie bestimmte Substanzen binden, die ihnen später helfen, aggressive Zellen des Immunsystem kurzzeitig abzuwehren. Derart gewappnet strömen sie über den Stichkanal der Zecke in ihren neuen Wirt.

Weil dieser Vorgang mehrere Stunden in Anspruch nimmt, ist der beste Schutz gegen eine Infektion die rechtzeitige Entfernung der Zecke. Wenn eine Zecke binnen acht Stunden entdeckt wird, ist die Gefahr einer Übertragung von Borrelien gering.

Borrelien sind normalerweise wenig aggressiv. Sie teilen sich extrem langsam und attackieren keine Organe, sondern verstecken sich lieber im Bindegewebe. Gerade in dieser unauffälligen Lebensweise liegt aber paradoxerweise auch ihre Gefahr. Denn wenn das Immunsystem nach Monaten oder Jahren doch auf sie aufmerksam wird, greift es das von den Borrelien besiedelte Areal großflächig an. Und das macht sich dann – je nachdem, wo sich die Borrelien versteckt hatten – bei den Betroffenen als akute Gelenksentzündung oder als Nervenlähmung bemerkbar.

Diese beiden Beiträge erschienen in der Ausgabe vom 23. August 2010 im Rahmen der Story "Der Borreliose Boom" im Nachrichtenmagazin profil.

Freitag, 10. September 2010

Der Borreliose-Boom

Bis zu 50.000 Menschen erkranken jährlich an Borreliose. Während die Therapie im Frühstadium gut etabliert ist, scheiden sich bei länger zurück liegenden Infektionen die Geister.

„Totkrank“ ist laut „Bild“ der Bankräuber und Erpresser Thomas Wolf. Im Vorjahr hatte „Deutschlands meist gesuchter Verbrecher“ als Zugabe zu seinem Sündenregister auch noch eine Bankiersgattin entführt und war daraufhin mit 1,8 Millionen Euro Lösegeld untergetaucht. Während seiner Flucht verbarg sich Wolf wochenlang in Wäldern, wo er auch Teile seiner Beute vergrub. Erst durch den Hinweis seiner Ex-Freundin konnte er schließlich verhaftet werden. In den nächsten Tagen soll nun am Landesgericht Wiesbaden der Prozess beginnen. Doch Wolfs Anwalt meldet, dass sein Mandant schwer krank und nicht verhandlungsfähig sei: Herzrhythmusstörungen, Nervenlähmungen und Hautverfärbungen machen ihm zu schaffen. Noch vor der Polizei, so das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung, dürfte Wolf von einer Borreliose-verseuchten Zecke gefasst worden sein.
Ähnliche Erfahrungen machte im Februar der Hollywood-Star Ben Stiller, bei dem die Infektion einen Arthritis-Schub auslöste. „Mein Knie schwoll an, wurde ganz steif und tat höllisch weh“, berichtete der Schauspieler. Als es nicht besser wurde, ordnete sein Arzt Labortests an und stieß auf die mögliche Erklärung: Der Borreliose-Test war positiv und der Comedian bekam Antibiotika verordnet. An einen Zeckenstich konnte sich Stiller nicht erinnern. Aber immerhin: das Knie schwoll ab.
Weniger Glück hatte der Wiener Installateur-Meister Robert Wessely. Bei ihm war es die Augenärztin, die nach einer wieder kehrenden Bindehaut-Entzündung einen Borreliose-Test anordnete. „Das kommt nicht von außen, das kommt von innen“, erklärte sie ihrem Patienten. Wessely wurde daraufhin zwei Wochen lang stationär aufgenommen und einer Antibiotika-Intesivkur unterzogen. Doch die Therapie nützte wenig. Die Borrelien schlugen sich aufs Herz und Wessely leidet seither an chronischen Rhythmusstörungen und Herzinsuffizienz.
Wessely kann sich – so wie 40 Prozent der Borreliose-Opfer – nicht an einen Zeckenstich erinnern. Auch die charakteristische Wanderröte, die konzentrisch von der Stichstelle aus strahlt, trat bei ihm nicht auf.
Im Gegensatz zur Apothekerin Maria Theresia Aigner aus Neulengbach (NÖ). Sie ertappte im Juli eine Zecke auf frischer Tat in ihrer Kniekehle und entfernte sie mit einer Pinzette. Als sie den Zeckenstich beinahe schon vergessen hatte, zeigte sich – drei Wochen später - der ständig wachsende Kreis.

Die Borreliose boomt und breitet sich – nicht zuletzt durch die Klimaerwärmung – immer weiter aus. Überall wo es nicht zu kalt oder zu trocken ist, kommen unterhalb einer Seehöhe von etwa 1300 Metern Zecken vor. Und die nach dem französischen Mediziner Amédée Borrel benannten Bakterien sind ihre prominenteste und auch am meisten gefürchtete Fracht. Untersuchungen im Darm der zu den Spinnentieren zählenden Parasiten ergaben, dass – je nach Region – zwischen zwei und 50 Prozent der Zecken Borrelien beherbergen, in Österreich sind es im Landes-Durchschnitt 22 Prozent.
Die nahen Verwandten der Syphilis haben sich im Lauf der Evolution perfekt auf die Zecken eingestellt. Sie sind ihr wichtigster Verbreitungs-Helfer. „Etwa jede vierte Zecke überträgt beim Blutsaugen Borrelien“, erklärt der Immunologe Gerold Stanek vom Institut für Hygiene der Medizinischen Universität Wien. Pro Jahr summiert sich das auf etwa 50.000 Erkrankungsfälle. „Ganz Österreich ist betroffen, der Osten etwas stärker.“ Die FSME als wesentlich bekanntere Zeckenkrankheit brachte es im Jahr 2009 auf vergleichsweise bescheidene 79 Krankheitsfälle.

Was Borreliose so besonders macht, ist ihre Unbestimmtheit. Während die Wanderröte als definitives Zeichen einer Krankheit im Frühstadium gilt, und eine Therapie hier – ganz ohne Antikörper-Test – sinnvoll ist, bezweifelt kein Borreliose Experte. Doch bereits bei der zweiten Phase fangen die Unsicherheiten an. Dass Borreliose schwerste Krankheiten auslösen kann, ist bekannt, doch ausgehend von den USA ist diese Diagnose immer mehr auch zu einer Erklärung für eine ganze Unzahl unbestimmter Symptome geworden. Von Schwächegefühl und Chronischer Müdigkeit über Depressionen bis hin zu unbestimmten chronischen Schmerzen wird vieles der Borreliose zugeschrieben. Ein positiver Test gilt vielen Medizinern, um die Diagnose als gesichert anzusehen. Doch wenn die darauffolgende Antibiotika-Therapie keine Linderung bringt, ist der Katzenjammer groß und zeitigen kuriose Folgen. In den USA klagten Selbsthilfegruppen etwa die Krankenkassen auf die Finanzierung lebenlanger Antibiotika-Therapien.
Wie wenig Aussagekräftig ein positiver Borreliose-Test ist, zeigte eindrucksvoll eine Studie, die Gerold Stanek mit Hilfe des burgendländischen Landesjagdverbandes durchführte. Bei mehr als tausend Jägern wurden das Blut auf Antikörper gegen Borrelien untersucht. Das Ergebnis war eine nahezu lineare Abhängigkeit vom Alter: 50-jährige Jäger hatten ein etwa 50 prozentiges Risiko auf einen positiven Test, unter den 70jährigen hatten 70 Prozent Antikörper gegen Borrelien. „Wir hatten aber nur sehr wenige Jäger, die irgendwelche gesundheitlichen Beschwerden angaben“, erinnert sich Stanek.

Die Symptome fortgeschrittener Borreliose sind Medizinern seit langem bekannt. Etwa die charakteristischen Hautausschläge speziell bei älteren Frauen, knallrot angeschwollene Ohrläppchen und Brustwarzen, von einem Gelenk zum anderen „springende“ Entzündungen oder rätselhafte Gesichtslähmungen. Dass derart unterschiedliche Beschwerden eine gemeinsame Ursache haben, weiß man allerdings erst seit kurzem. Rund um das Städtchen Lyme im Bundesstaat Connecticut war es in der zweiten Hälfte der Siebziger Jahre zu einer ungewöhnlichen Häufung von Gelenksentzündungen bei Kindern gekommen. Mehrere Jahre untersuchte eine „Task-Force“ alle möglichen Ursachen, bis schließlich der Verdacht auf die Zecken fiel. Der Bakteriologe Willy Burgdorfer isolierte im Jahr 1982 schließlich aus deren Darm die Borrelien und Allen Steere, Rheumatologe der nahe gelegenen Yale University wies nach, dass diese an den dicken Knien der Kinder in Lyme schuld waren.
Relativ rasch wurde ein Impfstoff gegen Borreliose entwickelt und 1999 in den USA zugelassen. Weil die in den USA vorherrschende Spezies „Borrelia burgdorferi“ in Europa recht selten ist, liefen die Arbeiten an einem breiter wirksamen europäischen Impfstoff. Doch dann publizierte Steere eine Arbeit, in der er den Verdacht äußerte, dass die Impfung Autoimmunstörungen auslösen könnte. In der Folge brach der Markt ein und der Hersteller GlaxoSmithKline nahm sein Produkt bereits 2002 wieder vom Markt. Bloß als Hunde-Impfstoff wird ein auf demselben Wirkprinzip beruhendes Produkt weiterhin angeboten – sogar in Europa.
Mittlerweile arbeiten mehrere Firmen, darunter zwei österreichische Unternehmen intensiv an einem Comeback der Borreliose-Impfung. Analysten bescheinigen ihr ein enormes Markt-Potenzial.

Davon abgesehen ist bei der Forschung rund um die Borreliose kein besonderes Engagement festzustellen. „Es sind noch unglaublich viele Fragen offen“, sagt die Grazer Dermatologin Elisabeth Aberer. Und der deutsche Zecken-Experte Dieter Hassler konstatiert mangelndes Interesse der Pharmaindustrie: „Das liegt wohl daran, dass die meisten der Antibiotika, mit denen die Krankheit behandelt wird, längst patentfrei zur Verfügung stehen.

Hassler erregte kürzlich mit der These Aufsehen, dass das menschliche Immunsystem nie mit einer Borrelien-Infektion fertig werde. In einer persönlich über mehr als 20 Jahre durchgeführten Erhebung zapfte er jedem einzelnen der rund 4000 Bürger seiner Heimatgemeinde Kraichtal in Baden-Württemberg Blut ab und ließ die Proben auf Antikörper gegen Lyme-Borreliose untersuchen. Bei 16,7 Prozent war der Test positiv. „Und spätestens nach acht Jahren traten bei jedem positiv Getesteten auch Symptome der Borreliose auf.“ Hassler behandelte diese lang zurück liegenden Fälle in der Regel mit hoch dosierten Antibiotika-Kuren.
Für Gerold Stanek ist das nicht nachvollziehbar. „Die Lyme-Borreliose ist ganz überwiegend eine selbstlimitierende Erkrankung, die Antikörper sind Ausdruck der eigenen Abwehr“, sagt Stanek. „Wenn das stimmen würde, dass der Organismus nie mit den Bakterien fertig wird, müsste die halbe Bevölkerung an Borreliose leiden.“ Auch eine vorbeugende Behandlung nach Zeckenstich, wie sie in den USA teilweise empfohlen wird, lehnt Stanek ab. „Da würden wir drei Fälle von Wanderröte verhindern, aber gleichzeitig 97 Prozent der Leute unnötig behandeln.“ Wenn die Hautrötung auftrete, sei es noch früh genug, eine Behandlung zu beginnen.

Doch auch hier gehen die Meinungen weit auseinander. Als Maria Theresia Aigner mit ihrer frischen Borreliose bei mehreren Ärzten um Rat fragte, wuchs ihre Verwirrung mit jeder zusätzlich eingeholten Meinung: „Mir wurden von allen Ärzten verschiedene Präparate der Antibiotika genannt und die sollte ich bis zu 50 Tage lang einnehmen.“
Für Stanek ist das nicht Leitlinien-konform. „Vergleichsstudien haben eindeutig gezeigt, dass die Kurzzeit-Therapie mit einer Dauer von zehn bis vierzehn Tagen der Langzeit-Therpie absolut ebenbürtig ist.“ Wenn Antibiotika unnötig zu lange eingenommen würden, schädige man bloß die eigene Darmflora unnötig und fördere auch die Bildung von Resistenzen.
Positive Nachrichten gibt es hingegen für jene Menschen, die auf Zeckenstiche mit einem besonders intensiven und lange andauernden Juckreiz reagieren. „Je stärker der Juckreiz, desto geringer das Infektionsrisiko mit Borreliose“, fasst Elisabeth Aberer das Ergebnis einer aktuellen Studie zusammen. „Der Zeckenstich scheint bei diesen Leuten eine lokale Entzündung zu machen, welche das Immunsystem so stark aktiviert, dass es eine Übertragung der Borrelien konsequent verhindert.“


„Die Diagnose boomt“

Die Grazer Borreliose-Expertin Elisabeth Aberer warnt, dass ein positiver Test leicht auf eine falsche Fährte führen kann.


profil: Ist die Borreliose eigentlich eine normale Krankheit?

Aberer: Nein, sie ist sehr schwierig zu diagnostizieren. Symptome wie chronische Müdigkeit, Schmerzen, Verspannungen können genauso von einer Grippe stammen oder von einem Burn-Out. Aber wenn dann der Betroffene die Antikörper bestimmen lässt und die sind positiv, dann heißt es „man hat Borreliose“. Das ist aber überhaupt kein Beweis, weil ein sehr hoher Anteil der Bevölkerung auch ohne irgendwelche Beschwerden Borreliose-Antikörper positiv ist.

profil: Wie hoch ist denn der Anteil in der Bevölkerung, die bei einem Borrelien-Test positiv reagieren würden – also schon einmal eine Infektion ausgestanden haben?

Abererer: Bei gesunden Blutspendern sind  etwa 10 Prozent positiv, bei Waldarbeitern und Orientierungsläufern kommt man auf 30 Prozent. Mit dem Alter nimmt die Durchseuchung zu. Bei einer burgenländischen Studie zeigte sich, dass fünfzigjährige Jäger zu etwa 50 Prozent positiv gemessen werden und siebzigjährige Jäger zu 70 Prozent. Davon hat jedoch kaum jemand Beschwerden gehabt.

profil: Viele Ärzte verschreiben Antibiotika zur Sicherheit.

Aberer: Das halte ich für sehr riskant. Wenn keine Krankheits-Aktivität besteht, sollten keine Antibiotika gegeben werden. Denn bei diesen Medikamenten besteht immer das Risiko einer allergischen Reaktion und anderer Nebenwirkungen. Am häufigsten ist Durchfall, es können aber auch Veränderungen im Blutbild oder Probleme mit der Leber auftreten.

profil: Ist Borreliose in den letzten Jahren häufiger geworden oder ist sie derzeit bloß besonders modern?

Aberer: Dass die Diagnose boomt, kann man schon sagen. Fast jeder Arzt ist versucht, Antikörper zu bestimmen, wenn die Patienten bestimmte Beschwerden schildern. Es wird einfach viel zu oft untersucht. Der positive Test führt oft auf eine falsche Fährte. Die klaren Krankheitsbilder, wie etwa die Neuroborreliose oder die Borreliose-spezifische Arthritis sind sehr klar definiert. Beim Rest gibt es eine gewaltige Grauzone.

profil: Als verlässlichster Beweis für eine Borrelien-Infektion gilt die Wanderröte, die sich konzentrisch von der Stichstelle der Zecke ausbreitet.

Abererer: Ja, sie tritt im Zeitraum von vier bis etwa 20 Tagen nach dem Stich einer infizierten Zecke auf. Wenn hier rechtzeitig Antibiotika gegeben werden, liegt die Wahrscheinlichkeit bei mehr als 90 Prozent, dass die Infektion damit ausgeheilt wird. Bei einem kleinen Teil, etwa bei fünf Prozent können allerdings eine Weile Allgemeinbeschwerden zurück  bleiben.

profil: Können Gelsen oder Bremsen auch Borrelien übertragen?

Abererer: Das ist eher unwahrscheinlich, weil Borrelien ein Mikroklima brauchen, in dem sie überleben können – und da ist der Zeckendarm ideal. Man hat zwar schon in einzelnen Fällen Borrelien in Gelsen gefunden, aber man nimmt an, dass die eher zufällig aufgenommen wurden, die Gelse also gerade eine Maus gestochen hat, die Borrelien in ihrem Blut hatte. Borrelien können aber nicht über längere Zeit in diesen Tieren leben, oder gar überwintern, so wie das bei den Zecken der Fall ist.

profil: Also theoretisch kann durchaus auch eine Gelse oder eine Bremse eine Wanderröte auslösen?

Abererer: Ja, die Patienten berichten das glaubhaft. Recht oft passieren Zeckenstiche aber auch unbemerkt. Im Prinzip spielt das aber keine Rolle, denn wenn die Wanderröte auftritt, dann soll man sie auch behandeln.

Elisabeth Aberer ist Leiterin der Ambulanz für Immundermatologie der Medizinischen Universität Graz und eine der Autorinnen der deutschen Leitlinien zur Behandlung der Lyme Borreliose

Dieser Text erschien in der Ausgabe vom 23. August 2010 im Nachrichtenmagazin profil.