Dienstag, 2. November 2010

Der Streptokokken-Kosmos

Einerseits harmlose und überall vorhandene Bakterien, andererseits gefährliche Krankheitserreger, die plötzlich Organe befallen und jährlich eine Million Kinder töten. Ein aktuelles GEN-AU Projekt befasst sich mit der geheimnisvollen Interaktion zwischen Streptokokken und Immunabwehr. Ziel sind leistbare Impfstoffe mit möglichst universeller Wirkung.

Als Bill Gates Mitte Juli anlässlich des internationalen AIDS-Kongresses in Wien war, fuhr er auch zum Campus Vienna Biocenter in den dritten Bezirk und stattete der Firma Intercell einen Besuch ab. Denn hier gedeiht eines der viel versprechendsten Impfstoff-Projekte für Entwicklungsländer, welches der Microsoft-Gründer mit seiner Bill & Melinda Gates Foundation kräftig unterstützt. „Es handelt sich um eine universelle Pneumokokken-Impfung“, sagt Eszter Nagy, die Chefin des Forschungs-Departments bei Intercell. „Im Gegensatz zu den derzeit am Markt befindlichen Produkten soll unser Impfstoff gegen alle Serotypen gleichermaßen wirken und das bei wesentlich niedrigeren Herstellungskosten.“
Pneumokokken zählen zu den Streptokokken und zeigen die "dunkle Seite" dieser normalerweise harmlosen Bakterienart. Pneumokokken-Infektionen verursachen jährlich etwa eine Million Todesfälle bei Kindern, mehr als 90 Prozent davon in den Entwicklungsländern. Über die Organisation „PATH“ finanziert die Gates-Foundation 60 Prozent der Entwicklungskosten, sowohl in der präklinischen Forschung wie auch der vor wenigen Monaten absolvierten "Phase-1-Studie". Hier wurde zum ersten Mal die Sicherheit und Verträglichkeit des neuen Impfstoffes am am Menschen getestet, und zwar an dreißig gesunden Männern. Die Daten sind noch nicht publiziert. Laut Nagy waren die Resultate jedoch sehr ermutigend. „Der Impfstoff erwies sich bislang als sicher und immunogen.“ Nun wird bereits der Fahrplan für die weitere Vorgangsweise – von der Organisation der großen Zulassungsstudien in Afrika bis zur Markteinführung diskutiert. Bis zum fertigen Produkt ist es allerdings noch ein weiter Weg.

Zum Know-How, das die vor zehn Jahren gegründete Intercell in dieses Vorhaben einbrachte und laufend einbringt, trägt ein im Rahmen von GEN-AU unterstütztes experimentelles Forschungsprojekt kräftig bei, das die Erkundung der Mechanismen und der Modulation des Immunsystems beim Kontakt mit verschiedenen Streptokokkentypen zum Ziel hat. Das mit knapp 250.000 Euro geförderte Programm startete vor zwei Jahren und läuft noch bis Anfang 2012. Wichtige Partner von Intercell sind zwei weitere Institute am Campus, die zu den Max F. Perutz Laboratories gehören, sowie das Team von Beatrix Grubeck-Löwenstein vom Institut für biomedizinische Altersforschung in Innsbruck. Bislang haben sich bereits mehrere interessante Publikationen aus der Kooperation ergeben.
Nagy sieht die Förderung der Grundlagenforschung als Basis für viele weitere Programme, die künftig aus den generierten Daten entstehen werden. Vor allem soll versucht werden, die vielen Details der zellulären Immunantwort beim Kontakt mit den Pneumokokken-Antigenen im Impfstoff zu erklären.
Der Intercell Impfstoff unterscheidet sich von den herkömmlichen Produkten gleich mehrfach. Die derzeit am Markt befindlichen Impfstoffe schützen gegen 10, bzw. 13 der insgesamt 90 Pneumokokken-Serotypen. Weil die Bakterien aber ständig trachten, der Immunabwehr zu entkommen, variierien sie den Code ihrer Virulenz-Faktoren. Sobald es einen Immun-Response gibt, ist das Bakterium in der Lage, die Sequenz dieses Antigens zu verändern und sie können in der Folge der Immunabwehr entkommen. Aus dem Druck der Impfungen über das Immunsystem entwickelt sich hier ein Replacement Effekt, der jene Bakterien begünstigt, die ihren Code ändern. Und das passiert bereits. Tatsächlich sind bereits wieder neue Impfstoffe gegen 15 und noch mehr Serotypen in Entwicklung. „Es wäre jedoch viel zu komplex, mehr als 20 Antigene an Proteine zu koppeln“, sagt Nagy. „Bei diesem Ansatz gibt es also ein gewisses technologisches Limit.“

Ein Impfstoff gegen alle Pneumokokken

Mit einer im eigenen Haus entwickelten Genom-Technologie zur Identifizierung geeigneter Impfstoff-Antigene scannte sie mit ihrem Team deshalb alle 2000 Proteine der Pneumokokken auf ihre Eignung als Angriffspunkt für den Impfstoff. Dazu wurde zunächst Serum von Patienten gesammelt, die sich gerade von einer Pneumokokken-Krankheit erholten. „Wir isolierten die Antikörper aus dem Serum und sahen, welche Antigene der Pneumokokken das Immunsystem während der Krankheit ansteuerte“, erklärt Nagy. Nach diesem Vorbild wurden auch die Antigene für den Impfstoff ausgesucht. Am Ende blieben drei übrig.
Diese drei Proteine spielen eine wichtige Rolle in der Vervielfältigung der Bakterien. Sie werden dafür gebraucht, die Zellwand der Bakterien während der Teilung wieder neu aufzubauen. „Damit haben wir einen vollkommen neuen Typus von Impf-Antigenen gefunden“, freut sich Nagy. Damit war man auch nicht mehr, so wie bei den herkömmlichen Pneumokokken-Impfstoffen, auf die Virulenz-Faktoren angewiesen. „Wir haben also ein Ziel ausgewählt, das sehr stabil ist und gleichzeitig im Lebenszyklus der Bakterien eine Schlüsselrolle spielt.“ Damit ergibt sich eine theoretische Wirksamkeit gegen alle Pneumokokken-Serotypen und damit auch eine ideale Eignung für Entwicklungsländer, wo ganz andere Serotypen vorherrschen als in Europa oder den USA.

Neuartiger Wirkverstärker "IC-31"

Wesentlich für die Wirksamkeit ist bei Impfstoffen stets das verwendete Adjuvans, ein Wirkverstärker, der die Immunreaktion auf die Antigene steigert. Auch hier baut Intercell mit dem neuartigen vollsynthetischen Adjuvans IC-31 auf eine neue Technologie, die gegenüber den bisher hauptsächlich verwendeten Aluminium-haltigen Adjuvantien deutliche Vorteile hat. Während diese seit Jahrzehnten verwendeten Hilfsstoffe eher die Bildung von Antikörpern forcieren, induziert IC-31 vor allem eine zelluläre Immunität. „Wir wissen aus der klinischen Forschung, dass bei Krankheiten im Zusammenhang mit Pneumokokken dieser T-Zell-Response speziell in Form der Th17 Zellen von vordringlicher Bedeutung ist“, sagt Nagy. „Das Adjuvant IC-31 löst in der Tat eine so starke Immunantwort aus, dass es vielleicht sogar möglich wird, einen Befall mit Pneumokokken zu eliminieren und die Kolonisierung rückgängig zu machen.“ Im Vergleich dazu ist die Funktionsweise über die Antikörper-Antwort deutlich langsamer, weil es mehrere Tage dauert, bis hier die Produktion in Schwung kommt. Bei einer heftigen Infektionslage wie in manchen Ländern Afrikas, könnte das aber eine Frage von Leben oder Tod sein.

Ob der Impfstoff sogar therapeutisch eingesetzt werden kann, ist derzeit laut Nagy noch ungewiss. „Wir werden prüfen, ob es möglich ist, die Bakterien zu eliminieren, wenn die Kinder bereits kolonisiert sind.“ Davon hängt es auch ab, ob es theoretisch möglich wäre, den Organismus komplett zu sterilisieren und die Pneumokokken dauerhaft abzuwehren. „Aber es kann sein, dass das gar nicht erstrebenswert ist“, sagt Nagy, „denn sie gehören schon zur kindlichen Flora.“ Ein Möglichkeit wäre es, die Bakterien-Anzahl, zu reduzieren und auf einem niedrigeren Level zu halten. „Dann wäre die Wahrscheinlichkeit, dass sie ausschwärmen und z.B. Mittelohrentzündungen, Lungenentzündungen oder Meningitis machen, verringert.“

Antibiotika machen Pneumokokken aggressiver

Bleibt die Grundsatz-Frage bei allen diesen Krankheiten: Warum schwärmen diese Bakterien überhaupt aus und befallen plötzlich Organe oder gehen ins Blut?
Dazu gibt es noch keine gesicherten Antworten aber immerhin einige Theorien, erklärt Nagy. Demnach spiele die Bakterienlast eine Rolle, die ein Mensch abbekommt. Je mehr Bakterien, desto schwieriger sei es für die Immunabwehr, das zu kontrollieren. Wenn dazu noch eine virale Koinfektion auftritt, wie das speziell bei Kindern sehr häufig ist, können die Bakterien leichter in normalerweise steriles Gewebe vordringen.
„Und schließlich“, erklärt Nagy, „gibt es bestimmte Stränge, die virulenter sind als andere.“ Dazu tragen auch Antibiotika ihr Teil bei. Sie erhöhen den Virulenz-Faktor der Bakterien und diese werden in der Folge aggressiver. Man kann, warnt Nagy, die Pneumokokken also auch über eine eigentlich gut gemeinte Therapie aufwecken und von friedlichen Besiedlern zu bösartigen Krankheits-Erregern machen. Der Grat ist schmal.
Und dieses Phänomen gilt es auch bei den zukünftigen Impfstoffen zu beachten. Denn so gefährlich die Bakterien wüten können, so verheerend kann auch der Gegenschlag des Immunsystems sein. Von der großen Grippe-Pandemie im Nachkriegswinter 1918/19 weiß man, dass die meisten Todesfälle nicht von den Viren- und den nachfolgenden Bakterien-Infektionen ausgelöst wurden, sondern von einer atypisch heftigen Reaktion des Immunsystems. Eine Impfung darf also keinesfalls diese Geister wecken. „Bislang sahen wir jedoch nur sehr milde Verläufe“, gibt sich Nagy optimistisch.

Dieser Artikel erschien in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift genosphären. Siehe auch das zugehörige Interview mit Eszter Nagy.

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